Zum ersten Mal in seinem Leben war Indigo Casson richtig krank gewesen. Er hatte Grippe und dann ging es ihm nicht besser, sondern schlechter, bis er schließlich auch noch Drüsenfieber bekam.
»Drüsenfieber?«, fragten seine ungläubigen Klassenkameraden. »Oder schwitzt er Blut und Wasser vor Angst?« Irgendwo im Hinterkopf fragte Indigo sich das auch. Doch es war wirklich Drüsenfieber. Er wurde tatsächlich recht schnell sehr krank. Aber selbst als es ihm am elendsten ging, seufzte ein Teil von ihm vor Erleichterung. Ein Teil von ihm dachte: Puh!
Zuerst fand seine Familie es sehr aufregend, dass Indigo so krank war. Jeder, der einen der Cassons fragte: »Wie geht es Indigo?«, bekam eine lange Antwort. Eine viel zu lange Antwort mit vielen Einzelheiten, von denen die meisten Fragesteller gar nichts wissen wollten.
Zum Glück dauerte diese Phase nicht sehr lange. Indigos Krankheit war bald keine Neuigkeit mehr, sondern eine bekannte Tatsache. Wenn jemand fragte: »Wie geht es Indigo?«, antworteten die Familienangehörigen: »Gut«, und redeten von interessanteren Dingen. Nicht weil Indigo ihnen gleichgültig geworden wäre, sondern weil es eben nichts Neues zu berichten gab. Jedenfalls ging es Indigo inzwischen im Vergleich zu früher gut. Er konnte wieder die Treppe hinauf- und hinuntergehen. Er konnte essen. Er fiel nicht mehr dauernd in Ohnmacht. Es ging ihm gut.
Inzwischen versäumte Indigo ein ganzes Schulquartal und wurde außerordentlich groß und dünn. Er verbrachte viel Zeit allein. Im Haus war es tagsüber sehr still. Maggy, seine älteste Schwester, war fort auf der Universität. Die achtjährige Rosa und Safran (seine Adoptivschwester) waren in der Schule. Seine Eltern, beide Kunstmaler, waren mit ihrer Arbeit beschäftigt, der Vater in London und die Mutter in ihrem Häuschen hinten im Garten. Es war eine friedliche Zeit, aber sie vermittelte Indigo manchmal ein seltsames Gefühl. Als ob er unsichtbar würde, wenn er allein war. Einmal schaute er in den Spiegel, grinste sich zu und sagte: »Immer noch da!«
An manchen Tagen brachte ihm Safran Aufgaben aus der Schule mit. Dann wieder las Indigo Bücher oder sah fern. Trotzdem lag er, besonders als es ihm allmählich besser ging, viele Stunden lang ausgestreckt auf dem Bett und schaute verträumt in den Himmel. Am liebsten waren ihm klare Tage, wenn Flugzeuge das Blau durchkreuzten und hinter sich die weißen Banner der Kondensstreifen entfalteten. Indigo stellte sich vor, dass die Maschinen voll unbekannter Leute waren, auf dem Weg zu Orten, die er noch nie gesehen hatte. Selbst wenn sie so hoch flogen, dass sie unsichtbar waren, notierten die Kondensstreifenfahnen ihre Reisen am Himmel.
Indigo dachte, dass er bis zu seiner Krankheit allein auf einer Reise gewesen sei. Durch die Tage und Wochen und Jahre der Zeit war er gereist.
Als es dem Ende zuging, war Indigos Reise ziemlich unangenehm geworden.
Indigos Phase friedlicher Unsichtbarkeit wurde von Rosa beendet. Rosa hatte die Angewohnheit, sich beim ersten Läuten aufs Telefon zu stürzen. Eines Tages stürzte sie wieder und es war ihr Vater, Bill Casson, der aus London anrief. Weit entfernt in seinem aufgeräumten, gepflegten Atelier hörte Bill Casson eine Reihe von dumpfen Schlägen. Rums, rums, rums und dann ein heftiger Stoß.
»Was um alles in der Welt ist das, was ich da höre?«, fragte er und Rosa antwortete: »Indigo.«
»Was ist denn mit ihm passiert? Hat er sich wehgetan?«
»Er ist nur die Treppe heruntergesprungen.«
»Die Treppe heruntergesprungen?«
»Ja.«
»Gesprungen?«
»Ja.«
»Dann muss es ihm besser gehen«, sagte Bill.
Später, als Rosa von diesem Gespräch berichtete, schauten alle Indigo an. Es stimmte. Es ging ihm besser. Ohne dass sie es bemerkt hatten, ohne dass er selbst es bemerkt hatte, war er wieder gesund geworden. Seine Reise durch die Tage und Wochen und Jahre der Zeit würde gleich wieder beginnen. Indigo konnte sich kaum erinnern, wohin er, damals noch fünfzehn Zentimeter kürzer, in jenen fernen Tagen vor der Krankheit gereist war.
Eve, Indigos Mutter, sagte glücklich: »Es geht dir besser, Indigo, mein Schatz! Du kannst wieder in die Schule gehen!«
»Ja«, bestätigte Indigo. Rosa klagte: »Ich finde, er sieht immer noch schrecklich aus!«, und alle lachten.
Nur Rosa als Einzige in der Familie wusste, was es für Indigo bedeutete, wieder in die Schule zu gehen. Safran erriet ein wenig davon, aber Rosa wusste alles oder glaubte es wenigstens zu wissen. In ihrer Klasse war ein Junge, dessen Bruder in dieselbe Schule ging wie Indigo. Vor langer Zeit hatte dieser Junge Rosa geschildert, wie es für Indigo in der Schule zuging.
Gerade bevor Indigo krank geworden war, hatte Rosa ihm erzählt, was sie wusste. Indigo hatte wütend gesagt: »Das alles ist überhaupt nicht wahr! Du solltest dir solche Lügen nicht anhören!«
Rosa war sehr gekränkt. Nie zuvor war Indigo ihr böse gewesen. Er hatte sie auch nie angelogen und sie wusste, dass er jetzt log. Sie hatte es nie wieder erwähnt, aber sie dachte oft daran.
Jetzt sagte sie zerknirscht zu Indigo: »Du müsstest nicht wieder hin, wenn ich Daddy nicht erzählt hätte, dass du die Treppe heruntergesprungen bist.«
Indigo lachte und schlug vor: »Probier deine Brille aus, Rosa!«, damit sie an etwas anderes dachte. Es war Sonntagabend und Rosas Familie hatte sie das ganze Wochenende ermuntert, ihre Brille auszuprobieren. Weil sie sich jetzt die Schuld daran gab, dass Indigo wieder in die Schule musste, holte sie die Brille und setzte sie auf. Alle waren Zeugen: Maggy, die übers Wochenende nach Hause gekommen war, Indigo, Safran und Sarah, Safrans beste Freundin, die so viel Zeit bei den Cassons verbrachte, dass sie eigentlich zur Familie gehörte.
»Wie sehe ich aus?«, fragte Rosa.
»Gut siehst du aus«, sagte Indigo.
»Ich habe nur so gefragt. Es ist mir egal.«
»Du siehst richtig cool aus«, sagte Maggy.
»Und älter«, sagte Safran.
»Du siehst genau richtig aus«, fügte Sarah hinzu, die auch helfen wollte. »Süß!«
»Süß!«, wiederholte Rosa angeekelt. »Ich!«
Rosa trug zum ersten Mal im Leben eine Brille, und weil sie nicht daran gewöhnt war, hatte das schreckliche Folgen. Sie machte einen Schritt und fiel. Sie stand still und die ganze Welt stürzte auf sie ein. Als sie die Arme hob, um sich zu schützen, schlug sie Sarah ins Gesicht.
»Schon gut! Es tut mir Leid, dass ich gesagt habe, du siehst süß aus!«, rief Sarah und steuerte ihren Rollstuhl rückwärts, während Rosa sich durch die Küche tastete. »Ich habe gemeint, fabelhaft! Umwerfend! Gescheit! Hellwach... Mach die Augen auf, Rosa!«
»Mit offenen Augen ist es schrecklich!«
»Du brauchst keine Brille«, sagte Safran. »Du brauchst Radar!«
»Daran ist Daddy schuld!«, sagte Rosa ärgerlich. Ihr Vater hatte entdeckt, dass sie eine Brille brauchte, und bei seinem letzten Besuch zu Hause war er mit ihr zum Optiker gegangen und hatte die Brille bestellt. Er hatte sie auch ausgewählt und Rosa hatte ihm nicht dabei geholfen, weil sie die ganze Zeit geschmollt hatte.
»Ich kann zu viel sehen!«, klagte sie und nahm die Brille ab. »Sie muss falsch sein! So ist es besser!«
»Du musst dich nur daran gewöhnen«, sagte Sarah. »Wie ich mich damals an den neuen Rollstuhl. Zuerst bin ich dauernd mit Leuten zusammengestoßen.«
»Das machst du immer noch«, sagten Safran, Maggy und Indigo gleichzeitig.
»Ganz selten. Nur wenn ich muss.«
»Komm hier herüber«, sagte Maggy zu Rosa und steuerte sie durch den Raum. »Setz die Brille wieder auf! Da! Schau!«
Rosa schaute und stellte fest, dass sie ein sehr reizloses Kind sehen konnte. Dieses Kind beobachtete sie durch ein kleines, helles Fenster, das sich plötzlich in der Küchenwand zeigte.
»Siehst du«, sagte Maggy, »ich habe dir gesagt, dass du cool aussiehst!«
Da schlug Rosas Verstand einen Purzelbaum, einen langsamen Salto in der Luft, und das Kind im Fenster verwandelte sich im Küchenspiegel in ihr eigenes Gesicht. »Oh!«, rief sie entsetzt. »Schrecklich, schrecklich, Daddy!« Indigo sagte schnell: »So siehst du im wirklichen Leben nicht aus!«
»Aber bestimmt!«
»Nein. Niemand sieht im Spiegel aus, wie er wirklich ist. Ich zeig es dir...« Indigo stellte sich neben sie, sodass er auch gespiegelt wurde. »Da! Sieht das aus wie ich?«
»Ja.«
»Nein.«
»Doch.«
»Komm mit in den Garten und probier die Brille dort aus«, sagte Indigo.
Rosa wurde etwas munterer, als sie Indigo hinausfolgte. Es war Nacht. Ein kühler Frühlingswind wehte und bei windigem Wetter wurde Rosa immer ein wenig aufgekratzt. Außerdem beruhigte es sie, dass selbst durch die neue Brille der Garten aussah wie sonst auch, kahl und schäbig und klumpig mit seinem struppigen Gras. Sie seufzte erleichtert.
»Die Nacht ist heute voller Sterne«, sagte Indigo.
Indigo hatte scharfe Augen. Er war fast dreizehn Jahre alt und kannte die Sterne seit Jahren, aber selbst er musste sagen: »Donnerwetter! So viele Sterne habe ich noch nie gesehen!«
Rosas Augen kamen hervorragend mit Dingen in der Nähe zurecht, aber alles, was weiter weg war, nahmen sie nur verschwommen wahr. Deshalb hatten sich ihr auch die hellsten Sterne nur als silbrige Flecken in der Dunkelheit gezeigt. Noch nie im Leben hatte Rosa einen Stern richtig gesehen.
Heute Nacht war der Himmel voll davon.
Rosa schaute hinauf und ihr war, als ginge sie in einen dunklen Raum und jemand würde das Universum einschalten.
Die Sterne flogen mit Sturmstärke auf sie zu. Sie schwankte unter dem Schock und war eine Zeit lang sprachlos, von den Sternen umgehauen.
Nach einer Weile holte Indigo ihr den Kaminvorleger, damit sie sich ins Gras legen konnte. Später brachte Maggy Decken. Safran, die Sarah nach Hause begleitet hatte, kam hinterher in den Garten und sagte: »Aber du hast doch Bilder von Sternen gesehen, Rosa! Du musst immer gewusst haben, dass es sie gibt!«
»Nein, das habe ich nicht gewusst«, sagte Rosa.
Weitere Zeit verging.
»Sie bilden Muster, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Indigo.
»Manche bewegen sich.«
»Das sind Flugzeuge, die über den Himmel fliegen.«
Noch später sagte Rosa: »Da sind wir. Und dann Sterne. Nichts dazwischen. Außer Raum.«
»Ja.«
»Indy?«
»Hmm?«
»Hast du keine Angst davor, morgen wieder in die Schule zu müssen?«
*
Rosa und Indigo waren die beiden jüngsten Cassons. Safran war vierzehn und Maggy, die Älteste, neunzehn. Maggy verbrachte das Wochenende zu Hause, teils wegen Indigo, der wieder in die Schule musste, und teils zur Würdigung von Rosas neuer Brille. Maggy kam häufig nach Hause, der Vater der Kinder allerdings nicht. Er blieb lieber in seinem Atelier in London, wo er das Leben eines anerkannten Künstlers führte und von der Familie nicht belastet war.
»Er kommt an den Wochenenden nach Hause«, sagte Rosas Mutter.
»Das stimmt nicht«, sagte Rosa.
»Fast an jedem Wochenende, wenn er es einrichten kann.«
»Nur einmal seit Weihnachten.«
»Nun, Daddy muss sehr viel arbeiten, Rosa Liebling.«
»Genau wie du.«
»Daddy ist ein richtiger Künstler.« So hatte sie den Kindern schon immer den Unterschied zwischen sich und Bill erklärt. »Ein richtiger Künstler. Er braucht Frieden und Ruhe... Überhaupt...«
»Überhaupt was?«
Eve drückte Rosa an sich, beschmierte sie dabei mit Farbe und sagte, sie habe vergessen, was sie sagen wollte.
Eve hatte kein Atelier, aber das machte ihr nichts aus. Sie war vollkommen glücklich im Gartenhäuschen mit dem alten rosa Sofa und einem Küchentisch, den ihr jemand geschenkt hatte, und verschiedenen Lampen und Heizöfen, die beängstigende blaue Flammen spuckten. Die Stärke der Malerin waren Haustiere und Kinder. Die Leute gaben ihr Fotos und danach schuf Eve erstaunliche Porträts. Engelhaft strahlende Bilder von Haustieren, die menschlich und intelligent aussahen (wie Kinder), und Kindern, die versonnen und faszinierend aussahen (wie Haustiere). Manche Familien begannen ganze Sammlungen anzulegen.
»Das ist nicht gerade Kunst, Eve, meine Liebe, nicht wahr?«, hatte Bill bei seinem letzten Besuch tadelnd kommentiert. Er betrachtete gerade ein besonders strahlendes Bild mit dem Titel Pontus, Adam und Katie. »Was meinst du, Rosa?«
Rosa, die selbst Künstlerin war und ihre eigene private Meinung hatte über die Porträts ihrer Mutter (total verkitscht, vor allem Pontus, Adam und Katie, die durch pastellfarbene Wolken zu schweben schienen), sagte, dass sie die Gemälde ihrer Mutter hervorragend finde, viel besser als seine miesen Bilder.
Rosas Vater hasste Szenen. Deshalb lächelte er und sagte: »Natürlich sind sie viel besser als meine miesen Bilder! Du bist vielleicht heftig, du Heckenröschen!« Er kitzelte Rosa am Hals und tat, als merkte er nicht, dass er fast in die Hand gebissen wurde.
*
In der Nacht, in der sie und Indigo im windigen Garten lagen und die Sterne betrachteten, war Rosa überhaupt nicht heftig. Sie sagte: »Vielleicht wird jetzt in deiner Schule alles anders. Besser.«
»Ja. Bestimmt wird es gut.«
»In meiner Schule piesackt keiner den andern. Wenn du auf jemand sauer bist, hängst du einfach seine Jacke an den falschen Haken. Oder du sagst: ›Klopf, tropf, hopf, Läuse auf deinen Kopf!‹, wenn du wirklich echt sauer bist.«
»Hat man das je zu dir gesagt?«
»Nein. Und wenn, würde ich einfach die Finger kreuzen. Wenn du die Finger kreuzt, prallt so etwas zurück. Dann bekommen die anderen die Läuse.«
»Hmm?«
»Das weiß nicht jeder.«
Indigo lachte.
Eine Sternschnuppe fiel wie ein Kristallsplitter in einer silbrigen Kurve über den Himmel.
»Wünsch dir etwas!«, sagte Indigo.
Rosa wünschte sich etwas und fragte dann: »Warum?«
»Das mache ich immer. Bei Sternschnuppen wünsche ich mir etwas.«
»Ist es wichtig, wie schnell sie fallen?«
»Ich glaube nicht.«
»Kann man sich auch bei Flugzeugen etwas wünschen?«
»Oh ja.«
Rosa wünschte sich etwas bei Flugzeugen und schlief beinah ein und dann stand ihre Mutter an der Tür und rief: »Kommt herein, Rosa und Indigo, bevor ihr erfriert!«, und dann war Schlafenszeit und dann war Morgen.