13

 

 

 

Rosa war niedergeschlagen. Sie hing im Haus herum und blies Trübsal. Sie sagte, sie habe überhaupt nichts zu tun.

»Wie wäre es mit Malen?«, fragte Maggy, die aus London anrief.

»Mein Bild ist fertig.«

»Dann fang doch ein neues an. Das letzte war so gut, jeder hat das gesagt.«

»Der schreckliche Daddy nicht«, sagte Rosa mürrisch. »Maggy?«

»Ja?«

»Wann heiratest du Michael?«

»Sag bloß! Woher weißt du das? Es sollte ein Geheimnis sein! Jedenfalls dauert es wahrscheinlich noch eine Ewigkeit.«

»Wo werdet ihr wohnen?«

»Weiß der Himmel!«

»Was ziehst du an?«

»Wahrscheinlich etwas sehr Enges«, sagte Maggy, die über diesen (und keinen anderen) Aspekt der Hochzeit viel nachgedacht hatte. »Und ganz silbern und überall mit Pailletten besetzt.«

»Du wirst aussehen wie ein Fisch.«

»Oder pink. Ein sehr kräftiges Pink?«

»Unmöglich.« Rosa wurde plötzlich munter, weil sie durchs Fenster Indigo sah und daneben Tom, der seine Gitarre dabeihatte.

»Hallo, Permanentrosa«, sagte Tom beim Hereinkommen.

»Mit wem telefonierst du?«, fragte Indigo.

»Mit Maggy. Maggy, es ist Indigo mit Tom! Maggy weiß nicht, was sie anziehen soll, wenn sie Michael heiratet! Etwas sehr Enges mit Silberpailletten, sodass sie aussieht wie ein Fisch, oder kräftiges Pink, aber ich habe gesagt, das geht nicht.«

»Meine Mutter war wie ein Cowgirl angezogen.« Tom nahm seine Gitarre aus dem Kasten.

»Was hat dein Vater angehabt?«, fragte Indigo. »Seinen Raumanzug? Oder nur seine Baseballmütze?«

Tom warf ihn zu Boden und setzte sich auf ihn.

»Sag ihr, sie soll diesen kurzen schwarzen funkelnden Fummel mit den langen Handschuhen anziehen, den sie zu Großvaters Beerdigung getragen hat«, rief Indigo und hievte Tom auf die Seite.

»Sag ihr, Cowgirlsachen!«, schrie Tom.

»Ich habe es gehört!«, sagte Maggy. »Was für schreckliche Vorstellungen! Lass du dir was einfallen, Rosa Liebling!« Rosa sagte, sie könne nur an fade weiße Spitze denken, die meilenweit absteht. Das beschrieb genau das Kleid, nach dem Maggy sich insgeheim sehnte, seit sie fünf war, deshalb sagte sie »Ausgezeichnet!« und legte auf, bevor Rosa erklären konnte, das sei ein Witz gewesen.

Tom lag flach auf dem Rücken, ein Bein angewinkelt und das andere darüber gelegt, damit die Gitarre darauf liegen konnte. Probeweise zupfte er eine Minute lang an den Saiten, dann sang er.

 

»Heute Morgen

Wacht ich auf

Und trug fade

Weiße Spitze...«

 

»Ist das ein richtiges Lied?«, fragte Rosa ungläubig. »Oder hast du es dir gerade ausgedacht?«

»Beides«, sagte Tom und zupfte munter weiter.

 

»Nicht den schwarzen Funkelmini.

Ohne Handschuh wirkt der nicht,

Aber mit ist er oho, meint Indigo.«

 

Indigo warf Tom ein Kissen aufs Gesicht.

 

»Nicht so silbrig wie ein Fisch«, (sang Tom durch das Kissen),

»Nicht pink,

Sagt Rosa, und sie irrt sich kaum

Nach ihrem weißen Spitzentraum...«

 

Dann, während Rosa und Indigo noch lachten, leitete Tom über zu einer Melodie.

»Es soll wie von einer Harfe klingen«, erklärte er, während er spielte. »Ich habe es gelernt, als ich mit dem Gitarrespielen anfing, und habe kleine Stücke angehängt... Wenn diese Gitarre nur mal fünf Minuten lang den Ton halten würde!«

»Vielleicht ist es so, weil du sie verkehrt herum hältst«, sagte Indigo.

»Es ist so, weil die Saiten nicht gespannt bleiben«, sagte Tom. »Ganz zu schweigen von dem Sprung an der Rückseite und dem verdrehten Hals und davon, dass es sowieso die falsche Art von Gitarre ist... Trotzdem lernst du es lieber richtig herum, Indigo. Komm, du bist dran!«

Es war nicht die erste Gitarrenstunde, die Indigo bekam. Er hatte schon mehrere hinter sich, einige im Haus der Cassons und einige bei Tom oben auf dem Verandadach. »Der perfekte Ort«, sagte Tom. »Du kannst dir keine Gedanken über die Höhe machen, wenn du Gitarre spielst, und wenn du Gitarre spielst, dann machst du dir offensichtlich keine Gedanken über die Höhe!«

Das stimmte und es funktionierte. Indigo fühlte sich bald recht wohl auf dem Dach und lernte mit einer Geschwindigkeit, die Tom erstaunte. Seine Finger waren geschickt und er hörte seine Fehler so schnell wie Tom.

»Du brauchst nur Übung«, sagte Tom. »Dann bist du bald wirklich gut.«

Indigos Fortschritte wurden durch die Schwierigkeit behindert, eine Gitarre zwischen zwei Personen zu teilen. Das bedeutete, das Instrument durch die Stadt hin- und herzutragen. Damit machte sich Tom zu einem deutlichen Ziel für den rothaarigen Bandenführer und seinen Pöbel. Eines Abends wurde er gesehen und am nächsten verfolgt. Am dritten wurde er durch die Straßen gejagt und kam bei den Cassons schmutzig, atemlos und nervöser an, als Indigo ihn je gesehen hatte.

»Zwei von ihnen haben sich auf mich gestürzt und weitere kamen hinter ihnen«, sagte er, als sie gemeinsam den Schaden in Indigos Zimmer betrachteten. »Und sie haben mir den Gitarrenkasten abgenommen und versucht, ihn zu öffnen. Wenn sie kapiert hätten, dass man beide Verschlüsse gleichzeitig drücken muss, hätten sie es geschafft. Ich wünschte, der Kasten hätte richtige Schlösser!«

»Wie hast du ihn zurückbekommen?«, fragte Indigo.

»Ich habe den, der ihn öffnen wollte, am Hals gepackt und... Hallo, Rosa!«

»Was erzählst du da Indigo?«, fragte Rosa misstrauisch. »Warum bist du so verdreckt? Und was ist mit deinem Gesicht passiert?«

»Nichts Besonderes. Ich habe vielleicht einen Hunger! Würdest du mir wohl ein Sandwich machen, Rosa?«

»Später.«

»Oder etwas zu trinken bringen?«

»Warum holst du dir nicht Wasser aus dem Bad?«

»Rosa«, sagte Indigo. »Schwirr ab.«

»Oh, schon gut«, sagte Rosa.

»Jedenfalls«, fuhr Tom fort, als sie gegangen war, »hielt ich Jason fest und die anderen zogen von hinten an mir und Jason hat gehustet und sich gewehrt und dann hat jemand gerufen: ›Lauft!‹ Und rate, wer neben uns angehalten hat? Der Direktor! Er stieg aus seinem Wagen und fragte: ›Was ist hier los?‹, und ich schaute mich um und da waren nur noch ich und Jason. Alle anderen waren verschwunden.

Der Direktor stand nur da und schaute. Jason hatte schreckliche rote Flecken am Hals, er sah aus, als hätte jemand versucht ihn umzubringen, und meine Nase war ganz blutig, weil er mit dem Kopf darauf geschlagen hatte. Dann fragte der Direktor Jason: ›Woher sind diese Flecken an deinem Hals?‹, und Jason sagte: ›Ich wusste gar nicht, dass ich da irgendwelche Flecken habe, Sir‹, als würde es ihm nichts ausmachen.«

»Hat er deine Nase nicht bemerkt?«, fragte Indigo.

»Doch, dann schon. Er fragte danach und ich sagte, ich hätte wahrscheinlich geniest. Dann sagte er richtig gereizt: ›Ab nach Hause, alle beide!‹ Dann ging Jason in die eine Richtung und ich nahm meine Gitarre und kam hierher.«

»Sind sie dann noch mal hinter dir her gewesen?«

»Nein. Ich habe mich immer wieder umgeschaut. Und jedes Mal stand der Direktor noch da und beobachtete mich... Er mag mich nicht.«

»Er mag niemanden«, sagte Indigo, der beim Zuhören nicht untätig geblieben war. »Ich habe deinen Kasten abgewischt. Er ist aber an einem der Verschlüsse aufgerissen.«

»Da haben sie dagegen getreten. Ich weiß, was sie getan hätten, wenn sie die Gitarre herausbekommen hätten. Sie hätten sie in den Fluss geworfen. Ich habe gehört, wie Jason das gesagt hat. Wir waren gerade an der Brücke, als sie mich erwischten.«

»Ich kenne diesen Jason«, erklärte Rosa hinter der Tür, wo sie die ganze Zeit gehorcht hatte. »Sein Bruder ist in meiner Schule. Ich könnte ihn für dich verprügeln, wenn du willst.«

»Bloß nicht!«, sagte Indigo. »Du hältst dich da raus. Es hat nichts mit dir zu tun, auch nichts mit Jasons Bruder!«

»Und wenn ich Jason verprügle?«

»Nein, danke, Rosa.« Tom lachte. »Lass Jason in Ruhe.«

»Ich kann fabelhaft kämpfen«, sagte Rosa traurig. »Warum schließt ihr mich immer aus?«

»Das tun wir nicht«, widersprach Indigo. »Aber du kannst nicht einfach losgehen und Leute angreifen.«

»Warum nicht?«

»Weil du nur ein kleines Kind bist«, sagte Tom ungeduldig, und ohne auf Rosas empörten Blick zu achten, holte er seine Gitarre heraus und fing an sie zu stimmen.

»Ich zeige dir ein paar Akkorde«, sagte er und machte Indigo vor, wie man die Hände hält und die Finger bewegt. Die beiden vertieften sich so in den Unterricht, dass Rosa unruhig wurde. Sie hatte immer angenommen, dass Leute ein Instrument ganz selbstverständlich spielten, so wie sie malte, und sie fand all dieses geduldige Zuhören und Üben ungeheuer langweilig.

Nach einer Weile ging sie davon und als sie unten auf Sarah stieß, nahm sie deren Hilfe bei einem weiteren Brief an ihren Vater in Anspruch.

»Ich sage dir die Wörter und du schreibst sie auf«, schlug Rosa vor. »Dann geht es viel schneller, als wenn ich schreibe. Und wir können den Brief richtig lang machen.«

»Einverstanden.«

»Du fügst nichts hinzu und lässt nichts weg?«

»Natürlich nicht. Los!«

»Fang an mit ›Daddy Liebling‹«, diktierte Rosa.

 

Daddy Liebling,

hier schreibt dir Rosa.

Sehr gute Neuigkeiten. Maggy wird Michael heiraten. Falls du es vergessen hast weil du so lange nicht zu Hause warst er ist der mit dem Pferdeschwanz und dem Ohrring der dir nicht gefällt. Aber uns gefällt er. Und Maggy sagt sie wird ein weißes Spitzenkleid und drei Brautjungfern haben Safran und Sarah und mich und ein großes Fest für alle auch alle ihre alten Freunde. Feuerwerk. Eine Band. Ein großes Festzelt. Aber wo stellen wir es hin? Kutschen mit weißen Pferden für uns alle um in die Kirche zu fahren. Hinterher werden Maggy und Michael Urlaub in Australien machen und das Great Barrier Reef besuchen. Maggy hat das alles geplant und Mummy sagt ja sie kann das so machen. Du kannst das natürlich so machen Liebling sagt sie du musst das machen. Safran sagte das wird ein paar Wochen Hausputz bedeuten und Mummy sagte ja aber wir brauchen uns keine Sorgen darüber zu machen DADDY WIRD BEZAHLEN.

Alles Liebe Rosa

 

Sarah, die getreulich jedes Wort aufgeschrieben, nichts hinzugefügt und nichts weggelassen hatte, fand diese Mitteilung so komisch, dass Rosa wütend wurde.

»Es soll zum Fürchten sein«, erklärte sie ihr.

»Es ist zum Fürchten«, sagte Sarah.

Als Tom an diesem Abend nach Hause ging, ließ er seine Gitarre in Indigos Zimmer.

»Es ist zu lästig, wenn ich sie jeden Tag hin- und zurücktrage«, sagte er.

Indigo verstand. Er wusste, dass diese Gitarre immer noch unendlich viel besser war als gar keine Gitarre, auch wenn Tom so oft über sie klagte. Danach blieb sie bei den Cassons und Tom verbrachte dort immer mehr Zeit.

 

*

 

»Ich vermisse allmählich dein Gitarrespiel«, sagte Toms Großmutter eines Abends, als sie gemeinsam das Geschirr vom Abendessen spülten.

Tom staunte. »Ichhabe gar nicht gewusst, dass es dir gefällt.«

»Aber natürlich gefällt es mir!«

»Ich könnte die Gitarre wieder mitbringen.«

»Nein, nein! Das lohnt sich kaum, wenn du so bald wieder nach Hause fährst. Die Zeit ist so rasch verflogen. Ich muss sagen, das habe ich nicht erwartet, als du angekommen bist.«

»Ich auch nicht.« Tom schwieg einen Moment und stellte dann die Frage, die ihn schon lange beschäftigte. »Großmutter, könnte ich ein bisschen länger bleiben? Auch nach dem Ende des Halbjahrs?«

»Tom!«

»Ich könnte dir helfen. Mit den Katzen und allem.«

»Aber Tom, es war immer nur bis zum Ende des Halbjahrs ausgemacht! Dein Vater nimmt sich frei, um dich hier abzuholen. Und dein Flug ist gebucht...«

»Das könnte man ändern.«

»Und es ist nicht so, als ob...« Sie unterbrach sich, weil sie dann doch nicht sagen wollte, Toms Aufenthalt in England sei kein Erfolg gewesen. »Nicht als ob du hier sehr glücklich gewesen wärst...«

»Jetzt bin ich es.«

»Wirklich?« Toms Großmutter hörte auf zu spülen und schaute ihn scharf an. »Ja, vielleicht bist du es! Wenn es nach mir ginge, Tom, dann könntest du bleiben und ich würde mich freuen, dich hier zu haben. Aber du wirst mit deinem Vater reden müssen.«

Toms Gesicht wurde so verschlossen, als wäre ein Licht in ihm ausgeschaltet worden.

 

Danach vergingen die Tage sehr schnell. Maggy würde bald nach Hause kommen, deshalb verließ Eve ihr Häuschen und stürzte sich in eine Hausputzorgie. Sie half Rosa, den freien Raum an der Küchenwand rund um das Bild mit einem metallischen dunklen Gold zu bemalen, von dem sich die sturmgepeitschten Wellen und der Himmel schön abhoben. Außerdem schoben sie sehr viele Sachen unter Betten und Sofas, mähten das Gras vom Meerschweinchenfriedhof und kauften, weil Rosa darauf bestand, Lebensmittel ein.

»Richtige Lebensmittel«, sagte Rosa streng, als Eve allein einkaufen gewesen war und mit Erdbeeren und Kirschen zurückkam. »Supermarktlebensmittel!«, befahl sie und zwang Eve, noch einmal mitzugehen.

Dann kam Maggy nach Hause, mit Geschenken beladen, mit Schulden belastet und kurz nach ihrer Ankunft »mit Brillanten funkelnd«, wie Sarah sagte.

»Es ist nur ein Brillant«, sagte Saffy.

»Aber ein sehr großer«, fand Sarah.

»So groß«, stimmte Saffy zu, »dass man kaum glauben kann, dass er bezahlt ist. Falls er nicht nur ein großer Glasbrocken ist.«

»Er ist echt«, sagte Rosa. »Ich habe ihn ausgesucht! Ich habe ihn mit Michael gekauft! Und er ist bezahlt. Ich habe gesehen, wie Michael ihn bezahlt hat. Also!«

»Also«, sagte Maggy friedlich und richtete sich für die Ferien ein, kellnerte abends in einem Pub und verbrachte die Tage mit Sonnenbädern im Garten.

»Sonnenbäder!« Tom schaute zum grauweißen Himmel hinauf. Schon der Gedanke an Sonnenbäder missfiel ihm. Er fand, das sei eine viel zu sommerliche Beschäftigung. Ein Teil von ihm leugnete, dass der Sommer je kommen würde, und bis jetzt war das englische Wetter ganz auf seiner Seite gewesen.

»Es wird sehr heiß«, sagte Indigo.

»Heiß!« wiederholte Tom verächtlich.

»Das ist es aber«, sagte Rosa, »wir brauchen keine Jacken mehr.«

»Ihr tragt sie immer noch die ganze Zeit mit euch herum«, sagte Tom und Indigo erklärte ihm, dass in England dann Sommer war, wenn man die Jacke herumtrug statt sie anzuziehen. Nur an ein paar sorglosen Tagen im August, sagte Indigo, könne sie zu Hause gelassen werden.

»Was für ein Land!« Tom warf Indigo seinen Ball zu. »Fang! He, du hast ihn gefangen! Wann steigen wir auf diesen Kirchturm? Am Samstag?«

»Einverstanden, Samstag«, stimmte Indigo zu und am Samstag gingen sie los und nahmen Rosa in ihrem Permanentrosa-T-Shirt mit.

»Warum Permanentrosa?«, fragte Tom, als sie die abgetretenen Steinstufen der schmalen Wendeltreppe hinaufstiegen, die sich bis zur Turmspitze wand.

»Es ist ein Witz«, erklärte Indigo. »Es ist der Name einer Farbe, dauerhaftes Rosa«, und er erzählte Tom, wie Rosa den Namen bekommen hatte, als sie ein sehr kleines, sehr krankes, wenig dauerhaft erscheinendes Baby war.

»Ich hatte ein Loch im Herzen«, sagte Rosa über die Schulter. »Ich musste es zunähen lassen. Stimmt’s, Indy?«

»Ja.«

»Ich bin fast gestorben«, sagte Rosa stolz. »Und als das Loch zugenäht war, bekam ich etwas anderes, von dem ich immer den Namen vergesse.«

»Pneumonie«, sagte Indigo. »Das ist Lungenentzündung. Mach ein bisschen langsamer, Rosa.«

»Und ich bin wieder fast gestorben. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich gesund wurde. Maggy und Safran und Indigo haben mich dazu gezwungen. Sie haben sich abgewechselt.«

»Wobei abgewechselt?«, fragte Tom.

»Als sie mich gezwungen haben, gesund zu werden. Sie haben mich angestarrt und gesagt ›Werdgesundwerdgesundwerdgesund‹. Die ganze Zeit.«

»Nicht die ganze Zeit«, sagte Indigo. »Nur oft. Um dich daran zu erinnern.«

»Du hast mich immer wieder geknufft.«

»Nur um zu sehen, ob du noch lebst.«

»Ich weiß. Es hat mir nichts ausgemacht.«

»Wie alt warst du?«, fragte Tom.

»Eins.«

»Dann kannst du dich nicht wirklich daran erinnern.«

»Oh doch. Ich erinnere mich ganz genau an Indigos Gesicht und wie er durch die gelben Gitterstäbe schaut und sagt: ›Werdgesundwerdgesund.‹«

»Welche gelben Gitterstäbe?«

»Am Kinderbett«, sagte Rosa und Tom blieb so plötzlich stehen, dass Indigo von hinten gegen ihn stieß, und sagte: »Oh ja! Gitterstäbe am Kinderbett! Daran habe ich mich immer hochgezogen und oben hineingebissen.«

»Probier mal aus, wie weit du dich zurückerinnerst.« Tom dachte eine Weile nach und sagte dann triumphierend: »Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter sagte: ›Komm zu Mommy‹. Das muss gewesen sein, als sie bei uns lebte. Sie arbeitete im Yellowstone Park. Da war ich noch nicht mal zwei.«

»Oh Mann! Schlimmer als der schreckliche Daddy!«, fand Rosa.

»Soweit ich mich erinnere, hat es mir gar nichts ausgemacht, dass sie wegging. Sie erzählte mir, dass sie sich um die Bären kümmern muss. Sie schickte mir Bilder von ihnen, die sie gezeichnet hatte. Wie sie schlafen gelegt wurden und ihre Schuhe angezogen bekamen und solche Sachen.«

»Du Armer.«

»Nein, nein.« Tom stieg wieder weiter die Treppe hinauf. »Mir ging es gut. Ich war viel friedlicher, wenn sie weg war. Und manchmal schickt sie mir immer noch Bärenbilder!«

Dann waren sie oben und mussten sich darauf konzentrieren, dass Rosa sich nicht zu weit über die Brüstung beugte. Indigo stellte erfreut fest, dass er sich überraschend wohl fühlte. Es war nicht gerade angenehm hier oben, aber auch nicht schrecklich.

»Schaut nicht hinunter«, riet Tom. »Schaut hinaus. Schaut hinüber. Schaut auf das Flachdach der Schule. Ich wette, seit Jahren war niemand mehr dort oben.«

»Wie könnte man dort hinaufkommen?«, fragte Rosa.

»Ganz einfach«, sagte Tom. »Hinten die Feuertreppe hinauf und auf das Küchendach. Über das Küchendach dorthin, wo die Veranden beginnen. Die Veranda entlang bis zum Fuß des gläsernen schrägen Dachs auf dem Kunstgebäude. An den Kanten ist kein Glas, dort sind Fliesen und Metall. Ich habe nachgesehen. Dann das schräge Dach hinauf, nah an der Wand, wo es auf den Hauptturm stößt. Dann von dort aus den Turm hoch. Das bedeutet nur noch ein weiteres Geschoss, und Steigsprossen führen nach oben. Hier muss eine Feuertreppe gewesen sein, bevor sie das Kunstgebäude daneben bauten.«

»Du hast alles genau ausgearbeitet!«, sagte Indigo erstaunt.

»Seit Wochen habe ich es geplant. Gehst du mit, Indigo?«

»Vielleicht irgendwann.«

»Was hat es für einen Sinn, über irgendwann zu reden?«, fragte Tom, dessen Stimmung plötzlich von himmelhoch jauchzend zu tief betrübt pendelte wie so oft. »Wisst ihr, wo ich in zwei Wochen um diese Zeit sein werde?«

 

Das Gespräch mit Toms Vater war nicht erfolgreich gewesen. Toms Großmutter hatte es zuerst probiert, und als sie gescheitert war, hatte Tom einen Versuch gemacht. Er war auf kalte Wut gestoßen.

»Solange du weg warst«, hatte sein Vater gesagt, »hast du dich kein einziges Mal mit uns in Verbindung gesetzt. Kein Anruf. Kein Wort. Keine Geburtstagskarte an deine Schwester. Nichts. Außerdem haben wir drei Beschwerdebriefe von der Schule bekommen, die so großzügig war, dich aufzunehmen. Du warst eine richtige Belastung und hast nichts gelernt. Und ich habe während deiner langen und friedlichen Abwesenheit beschlossen, dass du lange genug verwöhnt worden bist und DASS ES FÜR DICH AN DER ZEIT IST, NACH HAUSE ZU KOMMEN UND ANZUFANGEN, DICH ZU BENEHMEN!«

 

»Wo?«, fragte Rosa. »Wo wirst du in zwei Wochen um diese Zeit sein?«

»Auf dem Heimflug«, sagte Tom.