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eit er in die Schule ging, freute sich Indigo zum ersten Mal nicht auf das Ende des Halbjahrs. Er hätte Grund dazu gehabt, denn der Sommer versprach gut zu werden. Maggy hatte ihren Lohn von drei Wochen für einen klapprigen Wagen ausgegeben und versprach, jeden überallhin zu fahren. Eve plante Ausflüge nach London (»Natürlich wird sich Daddy freuen!«). Derek hatte sie alle in sein Camp eingeladen.

Indigo hätte all das eingetauscht für die Möglichkeit, seinen Freund zu behalten. Es tat ihm weh, an Toms Abreise zu denken, er fehlte ihm schon im Voraus.

Rosa war auch verzweifelt, aber im Gegensatz zu Indigo versuchte sie nicht, ihre Gefühle zu verbergen. Wenn Rosa unglücklich war, zeigte sich das immer an ihrer schlechten Laune. Sie schlug wütend um sich bei allen Versuchen, sie aufzuheitern.

»Aber Rosa«, sagte ihr Vater, taktlos wie immer, »ich hatte den Eindruck, Tom sei eigentlich mehr Indigos Freund als deiner! Lass uns über etwas Schönes reden! Wie wäre es mit Maggys Hochzeit? Das klingt nach einem Spaß!«

»Es soll nicht nach Spaß klingen! Sarah sagte, die Hochzeit würde dich bankrott machen!«, fuhr Rosa ihn an.

Maggy, Safran und Sarah wurden ebenfalls beim geringsten Anlass angegriffen. Tom und Indigo mussten die schlimmste Behandlung von allen ertragen; sie konnten kaum mit Rosa reden, ohne angezischt zu werden. Sie verdächtigte die beiden (zu Recht), sie zu bedauern.

 

Eine weitere Woche verging und die letzten Tage des Halbjahrs kamen näher. Der Unterricht sollte am Mittwoch enden. Am Donnerstag würde Toms Vater nach England fliegen und am Samstag Tom wieder nach Hause bringen. Das war es. Da gab es nichts zu streiten, nichts zu hoffen, nichts, das sich verändern könnte. Tom sprach nicht mehr von seinem Vater, weder vom Astronauten noch vom Baseballspieler, auch nicht von dem wirklich alten Rock-and-Roller aus den alten Hippietagen. Noch nicht einmal von der Person, die sich so gut um ihn gekümmert hatte, dass er seine Mutter kaum vermisste, als sie wegging.

Er und Indigo redeten über andere Dinge. Über die Bande und ihren rothaarigen Anführer.

»Lass nicht zu, dass sie dich schlachten«, riet Tom.

»Das habe ich versucht«, entgegnete Indigo.

»Ich habe nichts davon bemerkt.«

»Nun«, sagte Indigo, »bemerk es jetzt! Bin ich geschlachtet?«

»Noch nicht«, sagte Tom.

Sie diskutierten über die schwarze Gitarre. Tom war wieder im Musikgeschäft gewesen und hatte lange ungestört in dem schwach erleuchteten Lagerraum spielen dürfen, zwischen staubigen Kisten und herrenlosen Instrumenten, die auf ihre Reparatur warteten.

»Sobald ich nicht mehr hingehe, werden sie die Gitarre wieder ins Fenster hängen«, sagte Tom zu Indigo.

»Ich werde für dich hingehen.«

»Das kannst du ja versuchen.«

»Ich gehe mit Rosa hin«, sagte Indigo, als wollte er sagen: »Ich gehe mit einer Polizei-Sonderkommission hin«, und Tom musste grinsen.

Ein anderes Thema, das Tom in diesen letzten Tagen oft erwähnte, war sein alter Plan, auf die Schule zu klettern. Eines Nachmittags führte er Indigo um das Gebäude und zeigte ihm die Route.

»Nein, danke«, sagte Indigo.

»Komm schon, Indigo! Oben machen wir ein Freudenfeuer!«

»Nein.«

»Na schön. Kein Freudenfeuer. Was ist los, Indigo? Indigniert?«

Indigo lachte.

»Es wäre ein guter Ort zum Nachdenken«, sagte Tom.

»Ich werde es mir merken«, sagte Indigo. »Für den Fall, dass ich je nachdenken muss.«

Tom warf ihm einen Ball zu, einen aus der Plastiktüte voller Bälle, die ihm an diesem Morgen zurückgegeben worden waren. Der Direktor hatte eine kleine Zeremonie daraus gemacht.

»Ich hoffe, du wirst einmal wiederkommen und uns besuchen«, hatte er gesagt und Tom von oben herab betrachtet. »Dein Aufenthalt hier war eine lehrreiche Erfahrung für uns alle... gewaltsam zuweilen...«, er schaute zu Jason hinüber, »...aber interessant. Dein Eigentum... ich freue mich über die Gelegenheit, es dir persönlich zurückzugeben.«

Und er reichte Tom eine schmuddelige Plastiktüte mit beschlagnahmten Bällen so feierlich, als übergebe er ein altes und wertvolles Erbstück der Schule.

»Du hast unsere Perspektive erweitert...«, sagte er zu Tom. (Der rothaarige Bandenführer kicherte und heulte dann auf, als ihn ein beschlagnahmter Ball hart und genau am rechten Ohr traf.)

»...Unsere Perspektive erweitert«, wiederholte der Direktor und schaute nachsichtig zu, wie Tom den zurückprallenden Ball fing und in die Tasche steckte, »was das fundamentale Ziel aller guten Erziehung ist... Wirst du mit uns in Kontakt bleiben?«

»Nein, Sir«, sagte Tom.

»Hmm.« Deprimiert ging der Direktor hinaus und übersah völlig die Empörung des rothaarigen Bandenführers. Auch keiner vom Pöbel schien Tom angreifen zu wollen, der jetzt mit einer Tüte voll Gummigeschossen und der Immunität gegenüber Vergeltung ausgestattet war. Aus dem gleichen Grund ließen sie auch Indigo in Ruhe. Fast in Ruhe. Der rothaarige Bandenführer hatte ihn im Gedränge an der Tür eingeholt.

»Wir wissen, wo du wohnst, Casson«, zischte er und seine Augen funkelten boshaft. »Vergiss das nicht! Auch wenn er wieder zu Hause ist, wissen wir, wo du wohnst!« Und er fügte hinzu, als er ein gutes Stück entfernt, fast außer Hörweite war: »Du und deine schmutzige kleine Schwester.«

 

*

 

Am letzten Mittwoch des Halbjahrs endete der Unterricht an Rosas Schule am Ende des Vormittags. Das war immer so. Dahinter stand die Überlegung, dass die jüngeren Kinder alle sicher zu Hause sein sollten, bevor die älteren, rüpelhaft vor lauter Ferienglück, aus ihrer nahen Schule auf die Straßen entlassen wurden.

Der Morgen verlief nach dem üblichen Stundenplan: Abschlussversammlung, letzte Verteilung von Fundsachen, Fotos und Autogramme auf die T-Shirts von Schülern, die in diesem Jahr abgingen. Rosa war als eine der Letzten auf dem Heimweg, ihr Autogramm war immer viel begehrt, von Jungen wie von Mädchen. Sie war populär, auch wenn sie es nicht wusste. Sie zeichnete immer eine Rose. Der Morgen ging zu Ende, die letzten Fotos wurden gemacht, die letzten T-Shirts signiert. Sogar ein paar letzte Tränen waren weggewischt. Und dann war die Schule plötzlich leer und am Mittag war Rosa zu Hause.

Sie fand ihre Mutter im Gartenhäuschen, wo Eve mit Hilfe einer Hand voll grüner Federn und einiger verwackelter Fotos ein möglichst lebensechtes Bild von einem längst verstorbenen Papagei malte.

»Was hältst du davon, Liebling?«, fragte sie, als Rosa an der Tür auftauchte.

»Er hat nur ein Bein.« Rosa betrachtete ein Foto.

»Ich weiß. Deshalb male ich ihn im Profil.«

»Ist er gestorben?«

»Schon vor Jahren.«

»Das dachte ich mir.« Kritisch schaute Rosa längere Zeit das Bild an, bevor sie fragte: »Was gibt’s zum Mittagessen?«

Eve trennte sich von dem Papagei, kam sofort und machte im Haus heiße Schokolade und Erdnussbuttersandwiches, weil sie erkannte, dass Rosa in diesen Tagen viel Trost brauchte. Sie aßen zusammen in freundlicher Stille und bewunderten dabei zum hundertsten Mal Rosas großartiges Kunstwerk an der Küchenwand.

»Rosa«, fing Eve nach einer Weile an, »ich wollte dir sagen... wegen Tom...«

»Wurde der Papagei mit einem Bein geboren?«, unterbrach Rosa sie sehr schnell mit vollem Mund.

»Nein, nein. Er hatte einen Unfall...«

»Dann solltest du ihn mit zwei Beinen malen. Wie er vor dem Unfall war. Ich rede nicht über Tom. Du solltest den Papagei jung malen. Mit zwei Beinen Ich hätte so gern vierhundertfünfzig Pfund.«

»Ich auch.«

»Warum, was würdest du damit tun?«

»Sie dir geben«, sagte Eve, es überraschte sie, dass Rosa fragen musste. »Ich glaube, ich könnte versuchen, den Papagei mit zwei Beinen zu malen. Und wenn es nichts wird, könnte ich eins wieder übermalen.«

Rosa nickte.

»Kommst du mit und hilfst mir?«

»Ich komme und schaue es mir an, wenn du fertig bist.«

»Vielleicht möchtest du mir Gesellschaft leisten, nur so zum Reden. Ich langweile mich dort draußen in diesem Häuschen.«

»Das stimmt nicht.«

»Vergessen wir den Papagei, Rosa Liebling, und machen etwas ganz anderes! Wir könnten... wir könnten... zum Supermarkt gehen und ein Festessen einkaufen für alle, die nach Hause kommen.«

Rosa war so gerührt von diesem heldenhaften Vorschlag, dass sie aufstand und ihrer Mutter die Arme um den Hals legte.

»Glänzende Idee?«, fragte Eve und wiegte sie hin und her. »Nein.«

»Oh, Rosa.«

»Ich würde so gern den Papagei mit zwei Beinen sehen.«

»Das mache ich sofort«, sagte Eve und versuchte es nicht übel zu nehmen, dass Rosa sich aus ihren Armen wand. Als Eve wieder in ihrem Häuschen war, ging Rosa hinauf in Indigos Zimmer. Toms Gitarre lag in ihrem Kasten auf dem Bett. Rosa nahm sie heraus, aber sie versuchte nicht zu spielen. Sie legte ihre Wange zart auf die zerkratzte Holzoberfläche und blieb so lange Zeit.

Dann setzte sie sich auf.

Sie drehte die Gitarre um und betrachtete den Sprung auf der Rückseite. Wenn man Tom darüber reden hörte, dachte man, die ganze Gitarre würde gleich in zwei Hälften zerfallen, aber in Rosas Augen war der Sprung sehr klein, lang, aber kaum so breit wie ein Fingernagel.

Er sollte ihn mit Klebstoff auffüllen, dachte Rosa.

Die Küchenschrankschublade unten war eine Fundgrube für Reparaturmaterial, alle möglichen Klebstoffe, Klebebänder, Schraubenzieher und Ähnliches.

Rosa ging hinunter und fing an, sie zu durchsuchen.

Von einem Klebstoff hieß es auf dem Etikett, er sei stärker als Nägel. Als Rosa wieder in Indigos Zimmer hinaufging, hatte sie ihn dabei, außerdem eine Dose Möbelpolitur, ein Staubtuch und die Rolle mit dem Klebeband, das Derek einmal benutzt hatte, um einen tropfenden Wasserhahn zu umwickeln. Rosa hatte ihm dabei zugeschaut, und die zu lockeren Stimmwirbel an Toms Gitarre waren ihr viele Male gezeigt worden.

Die Möbelpolitur wirkte wunderbar, sie entfernte Finger-abdrücke und deckte Kratzer ab. Rosa wurde ungeheuer vergnügt, während sie rieb. Sie fand, Tom könnte die Gitarre schwarz anmalen. Ich male sie nicht schwarz an, beschloss Rosa tugendhaft, aber Tom könnte es tun.

Vom Polieren der Saiten und des Griffbretts wurde das Staubtuch dunkelgrau.

Der ganze Schmutz ist weg, dachte Rosa zufrieden, und weil sie von ihrem Erfolg so ermutigt wurde, nahm sie die lockeren Stimmwirbel in Angriff. Sie wollte sie mit Klebeband umwickeln, wie Derek den Hahn umwickelt hatte. Wenn es funktionierte, wie sie hoffte, würden die Wirbel fester und stärker sein, und wenn nicht, konnte das Band wieder entfernt werden, ohne dass Schaden angerichtet worden war.

Jeder Wirbel war geformt wie eine kleine Schraube, die ein Rädchen drehte, das die Saiten straffte oder lockerte. Rosa schraubte und schraubte und schraubte. Die Saiten wurden so locker, dass sie sich aus der Befestigung lösten und herumflogen, sich um Rosas Arme wanden und in ihrem Haar verfingen. Sie zwängte alle miteinander in das Schallloch, damit sie aus dem Weg waren. Die Wirbel ließen sich immer noch nicht herausnehmen. Rosa prüfte erneut ihre Befestigung und holte einen Schraubenzieher. Sehr bald waren alle sechs frei, genau wie viele andere Dinge: Wirbel und Rädchen und winzige Schrauben sowie die Metallplatten, die alles festhielten. Rosa stapelte sie mitten auf dem Bett und dachte tapfer, ich weiß ja, wo sie alle hingehören.

»Ich weiß, wo sie alle hingehören«, sagte Rosa laut, obwohl sie es kaum aushielt, das alles zu betrachten. »Jetzt erledige ich das Kleben und dann sortiere ich sie.«

Ein kaltes Angstgefühl regte sich in ihr, irgendwo im Magen.

Rosa ignorierte es. »Nichts ist zerbrochen«, sagte sie unerschrocken.

Die Gitarrenrückseite nahm eine ungeheure Menge Klebstoff auf und erst nach einer Weile wurde Rosa klar, warum. Statt stärker als Nägel die Teile zusammenzuhalten, sickerte der Klebstoff direkt durch. Er tropfte ins Innere der Gitarre. Schon war er über die Saiten gelaufen. Er klebte sie aneinander und an alles, was sie berührten. Er sorgte dafür, dass Fusseln und Haare auf dem polierten Holz hängen blieben und irgendwie kam er auch an Indigos Decke. Dann geriet er an den Stapel von Dingen, die Rosa nicht anzuschauen wagte. Der Klebstoff war überall.

Rosa bekam schreckliche Angst und fing an zu weinen.

Unten läutete das Telefon. Automatisch sprang Rosa auf, weil sie es war, die immer an den Apparat stürzte. Sie lief die Treppe hinunter und nahm den Hörer ab und es war ihr Vater.

»Ich wollte mich nur mal melden«, sagte er heiter.

Rosa konnte nicht sprechen. Sie schluchzte immerzu in den Hörer. Fern in London rief ihr Vater verzweifelt: »Rosa, was ist denn? Was ist los? Rosa? SPRICH mit mir, Rosa!«

»Daddy, Daddy!«, heulte Rosa.

»Rosa! Rosa, bist du verletzt? Ist jemand verletzt?«

»Schrecklich! Ich habe was Schreckliches getan!«

»Rosa! Rosa, bist du allein?«

»Ich habe was Schreckliches getan«, schluchzte Rosa. »Schrecklich, schrecklich! Daddy, komm heim. Daddy, komm schnell nach Hause! Ich habe was Schreckliches getan!«

 

*

 

Auch die Schule von Indigo und Tom schloss an diesem letzten Mittwoch früher als gewöhnlich. Sie gingen miteinander nach Hause zu Toms Großmutter, ohne viel zu reden. Der Himmel war so blau und klar, dass die Kondensstreifen der Düsenflugzeuge lange erhalten blieben und die Flugzeuge selbst zu sehen waren, wie durchsichtige blaue Pfeile wirkten sie.

Im Haus erwartete sie Unheil. Das Erste, was sie beim Hereinkommen sahen, war Toms Großmutter, die auf das Telefon starrte, als hätte es sie gerade angegriffen.

»Was ist los?«, fragte Tom erschrocken und sie versuchte gar nicht, ihm die Nachricht behutsam beizubringen. Sie sagte: »Du kannst nicht nach Hause.«

»Ich kann nicht?« Tom schaute sie erstaunt an. Dann, als er es begriff, wiederholte er mit wachsender Begeisterung: »Ich kann nicht nach Hause?«

»Nein. Dein Vater hat gerade angerufen. Er kommt nicht.«

»Fantastisch!«

»Frannie ist im Krankenhaus. Sie ist sehr krank. Sie liegt auf der Intensivstation... Frances... Die arme kleine Frances...«

»Wie lange kann ich dann bleiben?«, unterbrach Tom sie gespannt. »Was hat er denn gesagt?«

»Sie ist sehr, sehr krank. Sie hat Hirnhautentzündung, Tom. Sie ist erst ein Baby.« Toms Großmutter wandte sich abrupt ab.

Tom schaute Indigo bestürzt an und formte unhörbar die Worte: »Weint sie?«

Indigo nickte.

Gewöhnlich entzog sich Tom anstrengenden Situationen, indem er wegging, so weit er konnte, und an etwas anderes dachte. Wenn das nicht möglich war, ließ er einen Ball aufprallen und dachte an etwas anderes. Diesmal jedoch schien beides nicht das Richtige zu sein. Unbeholfen klopfte er seiner Großmutter auf den Rücken und sagte: »Mach dir keine Sorgen, Großmama!« Er schaute zu Indigo hinüber, zog die Augenbrauen hoch, machte eine Kopfbewegung zur Tür und bot so seinem Freund heldenhaft an zu fliehen.

Indigo schüttelte den Kopf.

Tom sah erleichtert aus und klopfte seiner Großmutter etwas energischer auf den Rücken. Es war eher ein Trommeln, ziemlich schnell und fest.

Indigo flüsterte: »Wer ist Frances?«

»Nur ein Kind«, murmelte Tom ausweichend.

»Was für ein Kind?«

Tom schaute überallhin außer zu Indigo und murmelte: »Sie ist wie, äh, das Kind meines Vaters...«, und aus dem Trommeln wurde ein kräftiges Schlagen. Es schien seine Großmutter plötzlich wieder in die Normalität zurückzubringen, denn sie sagte recht scharf: »Lass das, Tom!«

Indigo, der Tom völlig verblüfft anstarrte, fragte: »Das Kind deines Vaters? Deine Schwester

»Eigentlich nicht. Nur Halbschwester.«

»Hat Tom dir nie von Frances erzählt?«, wollte Toms Großmutter von Indigo wissen. »Hat er seine Schwester nie erwähnt?«

»Großmutter«, fragte Tom, der auf den für ihn wichtigsten Aspekt der Lage zurückkam, »hat Dad etwas darüber gesagt, wie lange ich bleiben kann?«

»Tom!« Seine Großmutter schrie fast. »Frances ist im Krankenhaus! Sie ist furchtbar krank! Ich verzweifle an dir! Ich verzweifle an dir

Es entstand eine entsetzte Stille, während sie und Tom einander empört anstarrten.

Indigo nahm die Sache in die Hand. Es gab ein Dutzend Dinge, die er nicht verstand, aber er schob sie zur Seite.

»Wir machen Ihnen Tee«, sagte er zu Toms Großmutter. »Dann fühlen Sie sich besser. Ich glaube, Tom hat es einfach noch nicht begriffen. Das mit Frances. Er will nicht gemein sein...«

»Ich? Gemein?«, fragte Tom entrüstet.

»...Er denkt einfach noch nicht klar. Stell den Teekessel auf, Tom!«

»Stell ihn doch selbst auf!«, sagte Tom wütend.

»Er hat einen Schock.« Indigo füllte den Kessel mit Wasser. »Das ginge mir genauso, wenn es Rosa wäre...«

 

In diesem Moment erinnerte sich Indigo unversehens an den rothaarigen Bandenführer, der ihn am Tag zuvor verhöhnt hatte. Indigo hörte ihn wieder die halb verstandenen Worte sagen: »Du und deine schmutzige kleine Schwester!«

 

»Mir ginge es genauso, wenn es Rosa wäre«, wiederholte Indigo.

Mit einem Mal machte er sich Sorgen um Rosa. Er hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, sie würde irgendwo in Schwierigkeiten stecken.

»Rosa?«, fragte Tom.

Indigo stellte fest, dass Tom ihn sehr seltsam anschaute, als würde er versuchen, ihm direkt in den Kopf zu sehen. »Indigo«, sagte Tom, »Frances ist nicht wie... es ist nicht das Gleiche... Dir ist wichtig...«

Tom unterbrach sich gerade rechtzeitig, murmelte seiner Großmutter zu: »Ich habe nur gesagt, ich finde, du solltest dir keine Sorgen machen«, und ging zur Tür hinaus. Sie setzte sich und stützte den Kopf in die Hände.

»Ich glaube, er hat Recht.« Indigo riss sich zusammen und fing an, den Tee zu machen. »Sie sollten sich nicht zu sehr beunruhigen. Babys sind taff. Rosa war wochenlang im Krankenhaus, als sie ein Baby war. Ich habe es Tom erzählt.«

»Du hast ihn gehört«, sagte Toms Großmutter bitter. »Er macht sich nichts daraus.«

»Oh doch.«

»Ich habe sie vor einem Jahr besucht, als Frances gerade geboren war. Er hat sie gar nicht angeschaut.«

»Zu Rosa ist er immer wirklich nett«, sagte Indigo beharrlich.

»Er fand es schrecklich, als sein Vater wieder heiratete.«

»Ich nehme an, es war schwer, sich daran zu gewöhnen.«

»Er hat es gar nicht versucht. Er wurde immer abweisender, hat sich nicht im Geringsten bemüht. Deshalb hatte ich ihn hier. Um ihnen allen eine Atempause zu verschaffen. Ich dachte, er würde zur Vernunft kommen und froh sein zurückzugehen, aber er hat immer wieder gebeten, bleiben zu können... Nun, jetzt hat er, was er wollte! Wenn ich nur wüsste, wohin er gegangen ist.«

»Ich werde ihn suchen, wenn Sie wollen.«

»Toms Problem ist, dass er zu lange ein Einzelkind war. Er scheint immer im Mittelpunkt stehen zu müssen. Zu gern hat er ein Publikum.«

»Nun, wir mögen ihn so«, sagte Indigo nicht nur ein bisschen abwehrend. »Frances wahrscheinlich auch, wenn es ihr besser geht. Er wird sie zum Lachen bringen, genau wie Rosa. Und ihr komische Geschichten erzählen und Gitarre spielen...«

Wieder überkam ihn das seltsame Gefühl, Rosa sei in Schwierigkeiten, aber genau in diesem Moment läutete das Telefon und Toms Großmutter sprang auf, wobei sie Tee verschüttete.

»Gehst du auf die Suche nach Tom?«, rief sie Indigo zu, während sie zum Telefon lief. »Du weißt, wo er meistens ist... Bitte, Indigo?«

Indigo zögerte.

»Bitte.« Ihre Stimme war zittrig und angespannt. »Er sollte hier sein. Ich brauche ihn hier.«

»Ich bin schon weg«, sagte Indigo.