15

 

 

 

achdem Rosa mit ihrem Vater telefoniert hatte, ging sie wieder hinauf in Indigos Zimmer. Lange konnte sie gar nichts denken vor Entsetzen, saß völlig benommen da und starrte auf die zerstörte Gitarre.

Dann fiel ihr, so plötzlich wie ein Licht angeschaltet wird, das Musikgeschäft ein.

Im Musikgeschäft würde man ihr helfen können.

Rosa sprang auf und sammelte fieberhaft die demontierten Wirbel und Rädchen und Schrauben ein. Sie legte sie in ihr Schulsweatshirt, nahm die Gitarre, lief die Treppe hinunter, aus dem Haus und die Straße in die Stadt entlang. Inzwischen hatten in jeder Schule der Stadt die Ferien begonnen. Die Straßen wimmelten von Schülern, die aus Vorfreude auf den Sommer albern vor Ausgelassenheit waren. Die Stadtbewohner betrachteten den Auflauf missbilligend und murrten wie üblich, die Ferien seien viel zu lang. Rosa drängte sich durch die Leute, als wären sie nicht da.

Die Stadtbrücke war von der Bande aus Indigos Klasse besetzt worden. Alle waren da, der rothaarige Anführer, der Pöbel und die Mitläufer, sie aßen Pommes und Pizza, warfen Coladosen in den Fluss, tauschten laute und freche Bemerkungen über die Vorübergehenden aus und versetzten einander einigermaßen sanfte Knüffe und Püffe. Die meisten Passanten gingen ihnen aus dem Weg, Rosa aber nicht. Jenseits der Brücke, auf der anderen Straßenseite, war die Abzweigung zum Musikgeschäft. Sie umklammerte ihr Bündel und drückte die Gitarre an ihre Brust, während sie sich mitten in die Bande stürzte.

Rosa kam es vor, als wären es sehr viele große Jungen, die nach schmuddligen Kleidern rochen und nach Pizza, Bubblegum und Schweiß. Ihre Stimmen waren laut und fremd. Sie versperrten ihr den Weg und sie trat nach ihnen. Sie prallte gegen einen Jungen, er ließ seine Coladose fallen und fluchte. Rosa schaute starr auf die gegenüberliegende Straßenseite, duckte sich, drängelte, kam frei und rannte.

 

Plötzlich wurde sie von hinten gepackt.

Zwei Jungen hielten sie an den Armen fest und zogen sie zurück. Sie stürzte und ließ die Gitarre fallen. Es gab ein schreckliches Geräusch von berstendem Holz.

Dann wurde Rosa wieder auf die Füße gezerrt, ein dritter Junge bückte sich nach der Gitarre und ein Lastwagenfahrer, der gerade auf der Brücke gehalten hatte, ließ erneut den Motor an, schrie ihnen zum letzten Mal etwas zu und fuhr davon.

Der Junge, der Toms Gitarre aufgehoben hatte, betrachtete den Schmutz und die Splitter, das Gewirr aus klebrigen Saiten und den verstreuten Inhalt von Rosas Bündel, die Wirbel und Rädchen und Schrauben auf dem Pflaster und im Rinnstein. Er sagte: »Kaputt.«

Da drehte Rosa durch. Sie riss sich von ihren Peinigern los und trat und schlug um sich wie eine Wilde.

»Das ist die kleine Schwester von Indigo Casson«, sagte der rothaarige Bandenführer. »Ich habe ihn gewarnt! Schnappt sie euch!«

Niemand schnappte Rosa. Stattdessen schnappte sie sich die Jungen, zuerst die beiden, die sie vor den Rädern des Lastwagens zurückgezogen hatten. Während sie noch protestierten, griff sie den an, der die Gitarre davor gerettet hatte, völlig zerstört zu werden, und dann kämpfte sie in ihrem Elend, ohne irgendwelche Unterschiede zu machen.

Indigo, der auf der Suche nach Tom durch die Stadt lief, bog um die Ecke und sah die Szene. Das hatte er immer gefürchtet: Rosa mitten in der Bande, das Gesicht von Tränen überströmt, die zertrümmerte Gitarre und den rasenden Pöbel. Er hörte den rothaarigen Bandenführer rufen: »Werft sie in den Fluss!«

Da stürzte sich Indigo in die Schlacht. In den nächsten paar Minuten machte er all die Kämpfe wett, die er im gerade vergangenen Schuljahr ausgelassen hatte, und Rosa unterstützte ihn.

Die Angehörigen des Pöbels, blutend, grün und blau geschlagen, benahmen sich wie Helden. Sie bewahrten die Gitarre vor weiterem Unheil, wenn die Schlacht näher rückte. Immer wieder zogen sie Rosa vom Straßenrand zurück. Als Indigo den rothaarigen Bandenführer zu Boden geworfen hatte und auf ihm kniete, taub für die Tränen und Bitten des anderen um Gnade, als Indigo aussah, als würde er nie aufhören zu schlagen, zogen sie ihn vom Bandenführer herunter und hielten ihm die Arme auf den Rücken, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er hörte, was sie sagten.

»Mann, Indigo! Immer mit der Ruhe!«

»Lass Tony jetzt aufstehen, Indigo!«

»Deine Schwester darf nicht allein auf die Straße! Sie wäre direkt vor einen Lastwagen gelaufen!«

»Schau mal! Sie hat mich gebissen!«

»Wir haben sie weggezogen, aber niemand wollte ihr wehtun. Dann ging es nicht anders.«

»Lasst mich los!«, verlangte Indigo und funkelte den rothaarigen Jungen an, der jetzt gekrümmt an der Brückenmauer lehnte. Da packten sie ihn fester und sagten: »Tony hat schon genug abgekriegt, Indigo.«

Jetzt fing Indigo endlich an zu verstehen, was geschehen war, und er schaute wieder hinüber zu dem Jungen an der Mauer.

»Ist er okay?«, fragte er.

Ein paar Jungen zogen Tony hoch, klopften ihn ein wenig ab und sagten: »Fein! Da schau! Indigo hat gefragt, ob du okay bist, Tony. Mit dir ist alles in Ordnung, nicht wahr?«

Tony taumelte auf die Füße. Sein Gesicht war weiß und hatte rote Flecken. Er schaute sich um, starrte den Pöbel an, dann Indigo und konnte offenbar nicht fassen, dass seine Zeit vorbei war. Er sah zu Rosa hinüber und stieß hervor: »Ich habe euch gesagt, ihr sollt sie euch schnappen.« Der Pöbel, sein treuer Pöbel, den er so lange geführt und ermuntert, überredet und gedrängt hatte, betrachtete ihn, als wäre er beinah ein Fremder.

Jemand bemerkte beiläufig: »Total von der Rolle!«, und man hörte leises Gelächter.

Die meisten machten sich noch nicht einmal die Mühe, etwas zu sagen.

Es lag ein Gefühl der Leichtigkeit in der Luft, als hätte sich ein Unwetter zusammengebraut und getobt und klaren Himmel hinterlassen. Der Pöbel betrachtete mit einer gewissen Heiterkeit seine Wunden. Die Jungen hatten das Gefühl, unter einer Wolke gestanden zu haben, und jetzt war sie davongeweht. Diesmal waren nicht sie die Bösen gewesen. Diesmal waren sie unfair angegriffen worden und hatten reagiert wie die Helden.

Jetzt war die Vergangenheit erledigt. Gerechtigkeit war hergestellt.

Eine kleine Gruppe mit Marcus als selbst ernanntem Fachmann untersuchte die Reste der Gitarre. Andere sammelten den Inhalt von Rosas Bündel auf. Josh zeigte ihr den Kreis von Zahnabdrücken, den sie an seinem Handgelenk hinterlassen hatte.

Die Gruppe fing an, auseinander zu gehen.

Ein Pöbelmitglied wurde von seiner Mutter entdeckt und gezwungen, alle Pommes-Pappschalen aufzuheben, die sie auf die Straße geworfen hatten. Drei Mitläufer, die vom Kampf ausgeschlossen gewesen waren, hingen über dem Brückengeländer und versuchten, in den Fluss zu spucken. Der rothaarige Junge versuchte es zum letzten Mal. Er schaute von einem zum anderen und räusperte sich. Er sagte: »Wer kommt mit? Ich gehe jetzt.«

Er stand da und wartete. Niemand achtete auf ihn.

Er machte einen Schritt zurück, dann noch einen.

»Ich gehe, habe ich gesagt.«

»Bis dann, Tony«, sagte David freundlich.

 

Inzwischen verging die Zeit und Indigo, der wieder bei Verstand war und ängstlich alle fragte, ob er jemanden verletzt habe, war hin- und hergerissen zwischen seinem Versprechen, Tom zu suchen, und der Notwendigkeit, Rosa sicher nach Hause zu bringen. Der Zustand der Gitarre war ein weiteres Riesenproblem. Allgemein wurde angenommen, wenn sie in ihrem gegenwärtigen Zustand zum Musikgeschäft gebracht würde von Indigo oder Rosa in ihrem gegenwärtigen Zustand (verdreckt, tränenverschmiert, blutig und ohne Geld), dann würde man sie hinauswerfen, sobald sie durch die Tür gekommen waren. »Sie würden wahrscheinlich die Polizei rufen«, sagte Marcus. »Bestimmt würden sie eure Mutter anrufen! Geht lieber nach Hause und wascht euch und holt ein bisschen Geld.«

»Rosa sollte sowieso zu Hause sein«, sagte Indigo besorgt. »Und ich habe Toms Großmutter versprochen, Tom zu suchen. Sie braucht ihn; sie ist wirklich durcheinander. Und jetzt muss ich ihm sagen, dass seine Gitarre kaputt ist.« Rosa bekam Schluckauf und Marcus sagte schnell: »Im Laden werden sie schon etwas machen können.«

David sagte: »Geh du und such Tom, Indy. Wir bringen Rosa nach Hause. Komm, Rosa. Wir gehen zu deiner Mutter!«

Indigo sah ihn unsicher an, zu gern wollte er los und Tom suchen. Er fragte: »Bist du einverstanden, Rosa? Gehst du mit David und Marcus und Josh?«

Rosa nickte.

»Ich trage die Gitarre«, sagte Josh. »David hat all die Teile, die abgegangen sind.«

»Ihr bringt sie bis zum Haus?«, fragte Indigo. »Bis zum Haus und hinein? Schaut im Gartenhäuschen nach, wenn es aussieht, als wäre niemand da. Meine Mutter ist bestimmt dort und malt.«

»Okay.«

»Lasst sie nicht allein.«

»Natürlich nicht.«

 

*

 

Als Rosa zu ihrem Vater sagte: »Ich habe etwas Schreckliches getan! Daddy, komm nach Hause!«, da bekam er Angst. Er war in Panik geraten. Hatte seine Tasche gepackt. Die Wohnung abgeschlossen. War zum Bahnhof gerast und hatte den ersten Zug nach Hause genommen.

 

*

 

Marcus, Josh und David, die Rosa wie eine Ehrengarde begleiteten, kamen zum Haus und trafen dort niemanden an. Eve war erst vor ein paar Minuten auf die Suche nach Rosa gegangen. Aber sie hatte die Hintertür offen gelassen für den Fall, dass jemand vor ihr zurückkam. David trug die Gitarre hinein und stellte sie in eine Küchenecke. Marcus und Josh gingen nach Indigos Anweisungen mit Rosa zum Gartenhäuschen. Auch das war leer.

»Indigo hat gesagt, wir sollen sie nicht allein lassen«, erinnerte sich Marcus. Sie standen noch alle an der Hintertür und überlegten, was sie als Nächstes tun sollten, als ein Taxi draußen auf der Straße hielt und Rosas Vater heraussprang.

»Daddy!«, schrie Rosa und stürzte sich auf ihn.

Marcus, Josh und David betrachteten ihn kurz — tadellose Wildlederjacke, schwarzes Hemd, Designerhaarschnitt und ein ausgesprochen wütender Gesichtsausdruck, als er Rosas Zustand sah — und verzogen sich wie Rauch, der an die Wand geblasen wurde.

Rosa und ihr Vater bemerkten es nicht. Sie umarmten einander und schüttelten einander und schrien, was sie vom gegenseitigen Verhalten hielten, und als das Schlimmste vorbei war, fing Rosa wieder an zu jammern, dass sie etwas Schreckliches getan habe.

»Rosa«, sagte ihr Vater. »Du bist acht Jahre alt! Nichts, was du tust, kann so schrecklich sein!«

Rosa heulte noch lauter.

»Rosa!«, brüllte ihr Vater (er musste brüllen, weil Rosas Heulen jetzt ein kreischendes, an Eselgeschrei erinnerndes Stadium erreicht hatte). »Komm ins Haus und sag mir, was du deiner Meinung nach getan hast. Was es auch sein mag, ich verspreche dir, dass ich es in Ordnung bringe!«

Inzwischen waren sie an der Tür, die in die Küche führte. »Was es auch sein mag«, versicherte Bill Rosa sehr sanft und führte sie hinein.

Er meinte es. Es erschreckte ihn, Rosa, die tapfere, kritische, selbstsichere Rosa so unglücklich zu sehen.

»Was es auch sein mag, was du getan haben magst, ich bringe es in Ordnung«, versprach Bill und Rosa glaubte ihm und hörte auf zu weinen.

Ihr Vater richtete sich auf und da sah er zum allerersten Mal Rosas Bild an der Küchenwand. Rosa hatte bis zu diesem Augenblick vergessen, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, es ihm zu zeigen, aber jetzt beobachtete sie ihn und ihr Herz schlug sehr schnell und ihre Tränen waren getrocknet.

Bill Casson, normalerweise so selbstbeherrscht, starrte es mit offenem Mund an. Das Bild war so riesig, so dominierend, mit einer solchen Vielfalt von Farben und komplizierten Einzelheiten! Er war zutiefst erschüttert bei dem Gedanken, dass so etwas in seiner Abwesenheit geschaffen werden konnte.

Rosa wartete darauf, dass er etwas sagte.

Ihr Vater nahm an, dass er den Grund für ihre Tränen entdeckt habe, das Schreckliche, das sie getan hatte, und er zeigte erstaunliche Zurückhaltung. Er wurde nicht wütend. Er schluckte die Worte hinunter: »Ich habe deiner Mutter gesagt, sie soll dich nicht zu diesem verdammt albernen Graffitiunterricht mitnehmen.« Stattdessen sagte er sehr sanft, den Arm um Rosa gelegt: »Mach dir nichts draus, Süße, das kann man abwaschen.«

»Abwaschen?«, wiederholte Rosa.

»Nun, vielleicht nicht ganz. Aber bestimmt kann man es übermalen.«

»Übermalen?«

Rosa schaute ihn an, zuerst ungläubig, dann mit wachsendem Verständnis. Da war er endlich, er liebte sie, machte sich Sorgen um sie, eilte die ganze Strecke von London hierher, um sie zu trösten. Versprach, alles in Ordnung zu bringen. Sie liebte ihn und sie hasste ihn, beides zugleich.

Er hatte immer noch den Arm um sie gelegt und testete das Bild mit dem Fingernagel an einer Stelle, wo einer der von Rosa heraufbeschworenen Haie seinen herzlosen Leichnam verschlang. Er kratzte durch die Haihaut bis zum Gips darunter und sagte triumphierend: »Da! Schau nur, Liebling! Ich habe dir gesagt, es lässt sich abwaschen. War Mummy sehr verärgert?«

Rosa war sprachlos.

Ihr Vater wurde immer noch nicht wütend. Er war nicht wütend. Er wollte, wie immer, die Lage retten, Rosa helfen und wieder gutmachen, was sie Schreckliches getan haben mochte, gleichgültig was es ihn kostete. Deshalb setzte er sich hin, zog Rosa auf seinen Schoß und sagte tapfer: »Du und ich könnten das im Handumdrehen wegwaschen!« Aus seinem Ton ließ sich unmöglich heraushören, dass er das in Wirklichkeit keinen Augenblick glaubte, sondern annahm, mehrtägiges Kratzen sei nötig, das den Rücken strapazierte und die Hände ruinierte.

»Das ist nicht das Schreckliche, das ich getan habe«, sagte Rosa.

»Ich muss in die Stadt und Jeans und ein oder zwei T-Shirts kaufen, in denen ich arbeiten kann...«

»ich habe etwas viel Schlimmeres als das gemacht!«

»...Ich habe einen Termin oder zwei, mehrere eigentlich, die ich in London absagen muss...«

Rosa rutschte von seinem Knie, ging durch die Küche, holte Toms Gitarre, schob sie ihrem Vater unter die Nase und sagte:

»Das ist das Schreckliche!«

»Was?«

»Das ist Toms Gitarre. Ich habe versucht, sie zu reparieren und es noch viel schlimmer gemacht. Und ich bin draufgefallen und sie hat davon einen großen Sprung bekommen. Und Teile, die ich abgeschraubt habe, sind verloren gegangen, und einer der Wirbel ist ganz verbogen. Ein Lastwagen hat ihn überfahren.«

»Das ist das Schreckliche?«, fragte Bill erstaunt.

»Ja.«

»Worüber du so unglücklich warst?«

»Ja.«

»Aber bestimmt«, sagte Bill völlig verwirrt, »kann sie ersetzt werden, Rosa Liebling!«

»Was?«

»Ist nicht eine Gitarre so gut wie eine andere? Mehr oder weniger? Das hätte ich gedacht!«

Er war so ungeheuer erleichtert, Rosa gesund und wohlbehalten anzutreffen und nichts Schlimmeres vorzufinden als eine zerbrochene Gitarre, dass er die Arme ausbreitete und lachte. Dann setzte er sich zurück und seufzte vor Erleichterung, und plötzlich fiel ihm etwas ein, das er mitgenommen hatte, bevor er sein Atelier in London verließ. Ein Bild, das er Rosa zeigen wollte.

Er beugte sich zur Seite, zog seine Tasche heran und holte es heraus.

Rosa wurde das Herz schwer.

Es war ein Porträt, noch nicht ganz fertig, in Tinte und Wasserfarben. Es war nach der Fotografie gemalt, die Maggy im Atelier ihres Vaters gesehen hatte: Rosa mit ihrer Brille. Aufsässig. Verstört. Rosa, verloren zwischen mindestens einem Dutzend gespiegelter Rosas, die vor und hinter ihr verblassten wie ein Traum.

»Was hältst du davon?«, fragte Bill.

Sehr widerwillig schaute Rosa das Bild an — und war erstaunt. Sie sagte: »Das bin ich!«

»Ja.«

»Es ist gut.« Sie schluckte ein Schluchzen hinunter, sagte aber noch einmal, weil es der Wahrheit entsprach: »Es ist wirklich gut.« Dann sah sie die zerbrochene Gitarre an und fing erneut an zu weinen.

»Können wir Tom nicht einfach eine neue kaufen?«, fragte ihr Vater, der in diesem triumphalen Moment jedem alles gekauft hätte.

»Sie kosten eine Menge Geld«, sagte Rosa.

»Damit muss man rechnen, wenn man Qualität will«, erklärte Bill ruhig. »Ist nicht irgendwo in der Stadt ein Musikgeschäft?«

»Doch«, Rosa traute kaum ihren Ohren, »und dort gibt es eine Gitarre, die sich Tom seit vielen, vielen Wochen wünscht. Können wir sofort gehen?«

Bill sagte mit bewundernswerter Haltung, natürlich könnten sie sofort gehen, und ließ sich auf der Stelle in die Stadt schleppen. Und wenn er seine bewundernswerte Haltung ein wenig bereute, als er den Preis der schwarzen Gitarre sah, dann ließ er das Rosa nicht merken. Schließlich hatte ihr sein Bild gefallen. Und er war daran gewöhnt, Geld auszugeben, das konnte er viel besser, als Eve es je lernen würde. Außerdem war der Verkäufer sehr hilfreich, er erkannte Rosa sofort und gratulierte ihrem Vater dazu, ein so urteilsfähiger und großzügiger Käufer zu sein.

»Sie ist natürlich für deinen Freund?«, fragte er Rosa.

»Tom«, sagte Rosa.

»Tom. Natürlich. Richtest du ihm meine guten Wünsche aus?«

»Ja, mache ich.«

Dann gingen Rosa und ihr Vater zusammen nach Hause, wobei Bill ausschritt, als gehöre ihm die Stadt, während Rosa neben ihm hüpfte und sprang und vorübergehend so glücklich war wie noch nie in ihrem Leben.

»Deine Briefe haben mir sehr gut gefallen«, sagte Bill. »Wirklich?«

»Ich habe beim Lesen oft laut gelacht.«

»Sie sollten dich nicht zum Lachen bringen.«

»Oh. Was sollten sie denn?«

»Machen, dass du nach Hause kommst«, sagte Rosa.

 

*

 

Es war Stunden her, seit Indigo losgezogen war, um Tom zu finden. Überall hatte er Tom gesucht, von dessen Haus zu seinem und wieder zurück, in der ganzen Stadt, auf dem Weg zum Musikgeschäft, in der Bibliothek, auf dem Kirchturm, selbst auf dem mehrgeschossigen Parkhaus. Indigo war überall hinaufgestiegen.

Es wurde Abend, bevor ihm einfiel, wo Tom sein musste.

 

Obwohl Tom den ganzen Nachmittag so halb mit ihm gerechnet hatte, erschrak er sehr, als er bei einem Blick nach Westen, wo die Sonne unterging, plötzlich eine Hand sah, die das Geländer oben auf der Feuertreppe umklammerte. Dann die Oberseite eines Kopfs. Vom Wind zerzauste, strähnige braune Haare.

(»Viel zu lang«, sagte Safran immer. »Lass mich und Sarah sie doch schneiden!« — »Nein!«)

Dann streckte sich die andere Hand herauf und Tom war schon darauf gefasst; er griff danach, zog Indigo über das Geländer und umarmte ihn.

»Also los, sag es«, forderte Indigo ihn auf.

Tom grinste und fragte: »Indigniert, Indigo?«

»Nicht besonders.«

 

Das Dach der Schule war mit einer Art Kies bedeckt, der im Lauf der Jahre dunkler und von Moos bewachsen worden war. Indigo legte sich flach auf den Rücken. Der Aufstieg hatte weniger als zehn Minuten gedauert, doch ihm war er vorgekommen wie Stunden.

Er sagte: »He, Tom, der Himmel wird grün.«

»Darüber habe ich mir schon Sorgen gemacht«, sagte Tom, der auch auf dem Rücken lag, und sie schauten gemeinsam hinauf. Weder eine Wolke noch ein Flugzeug oder ein Vogel waren zu sehen. Nur die blaugrüne Klarheit eines Sommerabends.

»Ich habe eine Tüte Kirschen mitgebracht.« Indigo griff in seine Tasche.

»Du denkst an alles«, sagte Tom. »Weißt du, was ich hier oben gefunden habe? Einen kleinen Baum. Er wächst dort drüben an der Mauer. Dort ist auch eine Taube gewesen.«

»Spuck die Kirschkerne so weit wie möglich«, sagte Indigo. »Dann bekommen wir hier oben bald einen Garten.«

»Wir brauchen nie mehr hinunterzugehen, wenn die Kirschen reif sind.«

»Nein.«

»Der Himmel wird immer grüner. Als Nächstes sind dort Sterne, wenn wir nicht Acht geben.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Indigo philosophisch zu.

 

»Indigo?«

»Hmm?«

»Du würdest nicht schnell hinunterlaufen und meine Gitarre holen?«

»Könntest du nicht einfach summen?«

»Eigentlich nicht.«

»Ich muss dir schrecklich viel erzählen.«

»Ich muss nach Hause.«

»Ich weiß.«

»Du würdest nach Hause gehen, wenn Frances Rosa wäre und du ich wärst, nicht wahr?«

»Ja.«

»Was ist, wenn sie stirbt und ich ihr Leben lang nur schrecklich zu ihr gewesen bin?«

»Deine Großmutter hat heute Nachmittag wieder mit dem Krankenhaus telefoniert. Dort sagen sie, ihr Zustand habe sich stabilisiert.«

»Was bedeutet das?«

»Das ist gut. Es geht ihr nicht schlechter.«

»Dann habe ich also noch eine richtige Chance.«

»Natürlich hast du die.«

 

»Was war das, was ihr immer zu Rosa gesagt habt?«

»Werdgesundwerdgesundwerdgesund.«

»Dann mache ich das. Am Samstag.«

Indigo fiel etwas ein. »Dein Vater kann nicht kommen. Lassen sie dich allein fliegen?«

»Das habe ich doch schon getan, als ich herkam.«

»Oh ja«, sagte Indigo unglücklich.

 

Tom sagte, um sie beide zu trösten: »Es ist nicht so weit. Es geht einfach durch ein Stück von dem da.«

»Wovon?«

»Himmel.«

»Ein ziemlich großes Stück«, sagte Indigo.

»Ich weiß. Aber es ist nicht so, als wäre etwas dazwischen. Man muss schließlich nicht über Mauern klettern. Oder sich seinen Weg durch den Dschungel bahnen. Oder schwimmen.«

»Man könnte auch schwimmen.«

»Indigo«, sagte Tom. »Sei vernünftig. Das kann man nicht. Versuch es erst gar nicht.«

»Na schön.«

»Dort ist ein Stern. Ich habe dir gesagt, dass es so weit kommt. Du kennst das alles, was ich euch immer erzählt habe. Dass mein Vater ein Astronaut ist? Und ein Baseballspieler? Und das von meiner Mutter und den Bären? Den ganzen Zauber?«

»Ja.«

»Es ist alles wahr.«

Sie lachten beide.

 

»Hör zu«, sagte Indigo. »Ich sage dir jetzt etwas Schreckliches. Rosa hat versucht, deine Gitarre zu reparieren.«

»Was sagst du da?« Tom setzte sich sehr schnell auf.

»Sie hat alle Saiten abgemacht und die Stimmwirbel abgeschraubt.«

Tom schlang die Arme um den Kopf und stöhnte zum Himmel.

»Sie hat den Sprung an der Rückseite mit Superleim verklebt und dann ist sie mit der Gitarre in die Stadt gegangen. Unterwegs ist sie hingefallen und die Gitarre ist schlimm zerbrochen.«

»Was hat Rosa gemacht?«, heulte Tom.

»Dann ist sie in Panik geraten und hat meinen Dad aus London zu Hilfe gerufen.«

»Ich dachte, er sei nie nach Hause gekommen.«

»Er kommt in Notfällen. Er hat dir die schwarze Gitarre gekauft.«

»Was?«

»Er hat dir die schwarze Gitarre gekauft.«

»Dein Vater hat mir die schwarze Gitarre gekauft????«

»Ja. Lass meinen Hals los.«

Tom ließ sich aufs Dach fallen, lag schlaff da und starrte zum Himmel.

 

»Ich habe heute Nachmittag Tony Albinoni verprügelt«, sagte Indigo.

»Du hast Tony Albinoni verprügelt?«

»Ja.«

»Warum?«

»Was soll das heißen, warum?«

»Was hat er dir je getan?«, fragte Tom und dann lachte er, bis ihm beinah alles wehtat.