16

 

 

 

as Haus der Cassons war voller Menschen. Maggy und Michael. Safran und Sarah. Auch Derek war zufällig vorbeigekommen, weil Eve am Telefon erwähnt hatte, dass in der Küchenspüle das Wasser wieder nicht abfloss.

»Ich bin gekommen, sobald ich konnte«, erklärte Derek, während er die Tür aufriss (ohne zu klopfen), seinen Motorradhelm abnahm und in die Küche stapfte.

Derek war gekleidet wie immer, von Kopf bis Fuß in schlammverdrecktes schwarzes Leder. Er küsste Eve, stolperte über Sarahs Rollstuhl, sah Bill und sagte: »Hallo! Mehrere Besucher! Stell mich vor, Rosa!«

»Das ist Daddy«, sagte Rosa artig, »Daddy, das ist Derek, Maggys alter Freund. Jetzt hat ihn Mummy.«

Rosa trat zurück, um die Wirkung dieser Ankündigung zu beobachten. Ihr Vater, vermutete sie, würde sich sofort die Jacke ausziehen und Derek zu einem Zweikampf auf dem Rasen herausfordern. Der Sieger (vielleicht Derek, gekleidet, wie er war, in seiner schwarzen Lederrüstung, möglicherweise Bill, der den doppelten Vorteil unbehinderter Bewegungsfreiheit und einer sehr dicken Haut hatte) würde Eve für sich beanspruchen. So wäre die ganze Verwirrung darüber, wer zu wem gehörte, fair und endgültig ausgeräumt.

Rosa war sehr enttäuscht über das, was folgte.

»Ah ja«, sagte Bill und schüttelte Derek ganz gelassen die Hand. »Ja, Derek. Sehr schön, Sie endlich kennen zu lernen. Eve hat von Ihnen erzählt. Ihr müsst beide nach London kommen und meine... äh... meine... äh... meine... äh... Samantha treffen!«

Eve stieß einen erleichterten Seufzer aus. Maggy und Michael tauschten enorm bedeutsame Blicke. Sarah und Safran, die Maggy das Geheimnis schon vor Wochen entlockt hatten, schnaubten vor Lachen.

Derek und Bill ignorierten alle und redeten so langweilig über Abflüsse und Leitungen, dass Eve nicht mehr erleichtert, sondern etwas gehetzt aussah. Wie jemand, der gerade dem Kessel der Kannibalen entkommen ist und fürchtet, bei all den Rettungssprüngen im Feuer gelandet zu sein.

»Wenn nur Indigo und Tom nach Hause kämen«, sagte Rosa ungefähr zum zehnten Mal an diesem Nachmittag. »Ich weiß, wo sie sind. Wenn sie nur herunterkämen!« Allmählich, als das Licht schwand und der Abend nahte, wurde allen klar, wie lange die Jungen schon fehlten. Derek und Bill, die im Häuschen die neuen elektrischen Leitungen bewunderten, schauten immer häufiger auf ihre Uhren. Toms Großmutter rief immer wieder an.

Eve sagte: »Sie nehmen einfach eine kleine gemeinsame Auszeit«, und versuchte, nicht ständig nach ihnen aus dem Fenster zu schauen. Maggy und Michael fuhren auf der Suche nach den beiden durch die Straßen, kamen aber erfolglos zurück. Safran und Sarah sagten: »Hört, was Rosa sagt.«

Rosa wiederholte, was sie seit Stunden gesagt hatte, dass nämlich Tom und Indigo zweifellos oben auf dem Gebäude mit dem Schulturm waren.

»Aber Rosa Liebling«, sagte Eve. »Warum sollten sie dort oben sein?«

»Zum Nachdenken«, sagte Rosa.

Es dauerte eine Weile, bis jemand außer Safran und Sarah dazu bewegt werden konnte, diese Theorie ernst zu nehmen. Michael war der Erste, der sie für möglich hielt. Er sagte: »Eigentlich wissen wir, dass sie so verrückt sein können!«

»Das stimmt«, gab Derek zu und schlug vor, dass er und Michael, beide erfahrene Kletterer, oben auf der Schule nachschauen sollten, nur um sicherzugehen.

Das geschah nach einer kleinen Diskussion mit Bill. Derek und Michael fuhren hinüber zu der leeren Schule, gingen einmal prüfend um das Gebäude herum, sagten: »Überhaupt kein Problem!«, und stiegen hinauf, wobei sie an der Feuertreppe anfingen und genau die gleiche Route nahmen, die Tom beschrieben hatte.

Tatsächlich, es zeigte sich, dass Rosa Recht hatte. Tom und Indigo wurden entdeckt, wie sie ganz ungefährdet auf dem Rücken lagen und den Sternen neue Namen gaben. Sie taten, als würden sie nichts bemerken, bis Derek auf dem Dach auftauchte und freundlich sagte: »Kommt, ihr beiden Träumer! Jetzt geht es wieder hinunter auf den Planeten Erde.«

Tom seufzte. Indigo fragte: »Woher habt ihr gewusst, dass wir hier sind?«

»Heckenröschen«, sagte Michael und setzte sich neben sie. »Magst du den Planeten Erde nicht, Tom?«

»Nicht besonders«, sagte Tom.

»Komm schon, Indy, es ist Zeit zu gehen«, drängte Derek. »Bevor dein Vater die Truppen alarmiert. Er wollte schon Polizei und Feuerwehr anrufen. Zu Hause sitzen Maggy und Safran und Sarah ihm gerade auf dem Kopf.«

»Wirklich auf dem Kopf?« Tom wurde ein bisschen munterer.

»Bildlich gesprochen sitzen sie ihm auf dem Kopf«, sagte Derek.

»Was macht Rosa?«

»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie gerade sehr glücklich ist. Lasst uns gehen«, schlug Derek vor.

Indigo und Tom kamen ohne weiteren Widerspruch. Seit sie die Scheinwerfer auf dem verlassenen Parkplatz der Schule gesehen hatten, wussten sie, dass ihre friedliche Zeit vorbei war.

»Bist du jetzt indigniert?«, fragte Tom Indigo.

»Ich werde es allmählich.«

Derek organisierte ihren Abstieg, zuerst Michael, dann Tom, dann er und schließlich Indigo. Er sorgte sich ein wenig um Indigo, aber das wäre nicht nötig gewesen. Indigo, der an diesem Nachmittag jedes hohe Gebäude in der Stadt hinauf- und hinuntergeklettert war, schaffte es ganz leicht.

 

Sowie sie auf dem Parkplatz der Schule den Boden berührt hatten, verging die Zeit so schnell, dass es Tom und Indigo vorkam, als spürten sie, wie sich unter ihren Füßen die Erde drehte.

Jetzt waren Verhandlungen, Erklärungen und Abmachungen an der Reihe. Als Tom um Mitternacht durch die Haustür seiner Großmutter stolperte, sagte er: »Ich habe nachgedacht. Ich meine, ich sollte schleunigst nach Hause.«

»Das meine ich auch«, sagte seine Großmutter. »Je früher, umso besser. Wenn hier Mitternacht ist, haben sie in Amerika erst frühen Abend. Ich rufe sofort deinen Vater an.«

»Das mache ich«, sagte Tom.

Er tat es auf der Stelle und hörte so lange nichts, dass er erschrak und fragte: »Willst du nicht, dass ich nach Hause komme?«

Sein Vater klang seltsam, weit entfernt und schwach. Er sagte: »Vor ein paar Stunden habe ich gedacht, ich würde euch beide verlieren.« Er machte eine Pause, dann schrie er: »Natürlich wollen wir, dass du nach Hause kommst!« Danach wurde seine Stimme wieder normal und er und Tom stellten plötzlich fest, dass sie miteinander reden konnten wie seit vielen Jahren nicht mehr. Ihre mühelose Verständigung war wieder da, als hätte es nie daran gefehlt. Tom erzählte seinem Vater von Rosa und Indigo und von Rosas wunderbarem Bild und Indigos Kampf auf der Brücke. Er erzählte, wie Indigo durch die Stadt gehetzt und auf die Schule geklettert war, um ihn zu finden. Liebevoll beschrieb er bis in alle Einzelheiten die schwarze Gitarre, die er nicht aus den Augen gelassen hatte, seit sie ihm von Rosa in die Arme geschoben worden war. Tom konnte noch immer kaum glauben, dass sie jetzt ihm gehörte.

»Meinst du, es geht gut mit ihr im Flugzeug?«, fragte er. »Klebe viele Adressenschilder darauf. Nicht nur eins. Mehrere. Und schreibe auch unsere Telefonnummer dazu.«

»Wie geht es Frances?«

»Sie hält durch.«

Zehn Minuten nachdem Tom aufgelegt hatte, läutete das Telefon erneut und wieder war es sein Vater.

»Klebe auch zwei Adressen innen in den Kasten.«

»Okay.«

»Und Tom, ich habe sie versichert. Deine neue Gitarre. Nur für den Fall. Sag es Rosa.«

»Mach ich.«

»Ich will versuchen, einen früheren Flug für dich zu bekommen. Für morgen, wenn ich es schaffe.«

»Ist Frances wirklich so krank?«, fragte Tom und sein Vater sagte sofort: »Nein, nein, gar nicht! Es geht ihr gut!« Das war so offensichtlich unwahr, dass Tom nicht wusste, was er noch sagen sollte, und als seine Großmutter befahl: »Bett!«, und ihm den Hörer aus der Hand nahm, versuchte er gar nicht erst zu widersprechen. Er nahm seine Gitarre und stieg sehr langsam die Treppe hinauf, zu müde, um nachzudenken.

 

Bill Casson fuhr am nächsten Morgen nach London zurück, aber bevor er ging, hatte er ein Gespräch mit Rosa.

»Was ist geschehen, Rosa, als du gesagt hast: ›Daddy, komm nach Hause‹?«

»Du bist nach Hause gekommen.«

»So wird es immer sein.«

»Und wenn ich sage, komm nach Hause, und die schreckliche Samantha sagt, bleib?«

»Das würde sie nie tun. Und sie ist nicht schrecklich. Du wirst sie kennen lernen, wenn du mich besuchst.«

»Kann sie kochen?«

»Was?«

»Kann sie kochen?«

»Also weißt du, Rosa, kochen zu können ist nicht alles.«

»Ich dachte nur, wenn sie eine nette fette starke Dame wäre und die ganze Zeit kochen würde wie Sarahs Mutter, dann könnte sie nützlich sein.«

Rosas Vater klang ein wenig deprimiert, als er zugeben musste, dass Samantha dieser Beschreibung keineswegs entsprach. Rosa umarmte ihn und sagte, sie würde ihn trotzdem besuchen. Ihr ganzer Zorn auf den Vater war verschwunden. Daddy würde sie nie wirklich verstehen. Er redete immer noch von der Möglichkeit, ihr Bild von der Küchenwand zu wischen. Er war von ihnen allen fort in ein anderes Leben geglitten und schaute kaum zurück. Trotzdem, er war nach Hause gekommen, als sie ihn darum gebeten hatte, und er hatte Tom die schwarze Gitarre gekauft. Er war gut und er war böse.

 

»So sind alle«, sagte Derek, der in der Nacht zuvor verschwunden war, aber wieder erschien, sobald Bill aus dem Haus war. »Ich sehe, dass er den verstopften Abfluss des Spülbeckens nicht gereinigt hat, bevor er ging.«

»Er ist nicht der Abflussreinigertyp«, sagte Safran.

»Ein Glück, dass andere da einspringen. Wie geht es Toms Schwester heute Morgen? Habt ihr etwas gehört?«

»Sie versuchen es mit einem neuen Antibiotikum. Es hat noch nicht wirken können.«

»Also Daumen drücken.«

»Sie haben ihm einen früheren Flug besorgt. Für heute Abend. Nur für den Fall... Aber Toms Vater sagt, sie sei taff.«

»Das ist gut.«

»Was machen wir, wenn er weg ist?«, fragte Rosa. »Telefonieren«, antwortete Derek, während er behutsam das U-Rohr des Spülbeckens abschraubte. »Telefonieren, schreiben, E-Mails schicken (sagt bloß nicht, ihr hättet keinen PC, weil ich wette, dass Sarah einen hat!), fotografieren, Bilder malen, Gitarre spielen lernen, Geld sparen für Flugtickets... Schaut euch dieses Abflussrohr an! Voller steinharter Ölfarbe! Hat eure reizende Mum überhaupt keinen Verstand?«

»Nein.«

»Brocken von dem Zeug!« Derek schlug regenbogenfarbigen schmierigen Schmutz ab und warf ihn in den Mülleimer. »Ich muss gleich gehen, aber zuvor wollte ich dir etwas sagen, Indigo. Ich habe einen Freund, der mir einen Gefallen schuldet und einen Freund hat, der ihm einen Gefallen schuldet und sagt, er kann diese alte spanische Gitarre wieder reparieren. Gestern Nacht habe ich mit beiden geredet. Er sagte, er kann ihr einen neuen Rücken einsetzen und neue Saiten spannen, überhaupt kein Problem. Was hältst du davon?«

»Ich glaube, das wäre großartig«, sagte Indigo dankbar. »Danke, Derek. Ich sag es Tom, wenn er hier ist. Er kommt her, sobald er kann, um sich zu verabschieden.«

 

Als Tom kam, freute er sich sehr über Dereks Vorschlag.

»Es wäre mir schrecklich vorgekommen, sie wegzuwerfen«, sagte er.

»Kann Indy sie haben, wenn sie repariert ist?«, fragte Rosa.

»Er kann sie leihen.« Tom verbrachte die nächste Stunde damit, Akkorde und Fingerübungen für Indigo aufzuschreiben, und sah aufmerksam zu, wie er sie an der schwarzen Gitarre ausprobierte.

»Die Finger deiner linken Hand flattern zu viel«, sagte er kritisch. »Du musst sie viel dichter an die Saiten setzen. Rosa, du musst auf seine linke Hand achten!«

»Mach ich«, versprach Rosa.

»Tom, wie viel Zeit hast du?«, fragte Maggy plötzlich und Tom schaute auf die Uhr und sah, dass er überhaupt keine Zeit mehr hatte. Weil er so in die Arbeit mit Indigo versunken war, hatte er vergessen, dass er nur gekommen war, um sich zu verabschieden. Rosa sah sein Gesicht, als er sich um Worte bemühte, die er nicht sagen und sie nicht hören wollte. Sie schob sich unbeobachtet an Maggy vorbei und verschwand.

Safran und Sarah halfen Tom bei seiner schweren Aufgabe, sie umarmten ihn übertrieben, sagten: »Versprich anzurufen, sowie du zurück bist! Wackle noch mal mit den Augenbrauen! Wie schade, dass wir dir nie die Haare schneiden durften! Wink uns aus dem Flugzeugfenster, wenn du über uns fliegst! Seht ihr, er lacht! Er freut sich, wegzukommen!«

Dann stürzte sich Eve auf Tom, der lachte, ohne es zu wollen.

»Tschüs, tschüs, Tom Liebling«, sagte sie und küsste ihn schnell. »Ich hoffe, alles ist immer und ewig in Ordnung! Oh mein Lieber! Es tut mir Leid! Beachte mich gar nicht!« Eve lief hinaus, um im Gartenhäuschen zu weinen.

»Tschüs, Maggy!«

»Gib auf dich Acht, Tom. Du wirst uns so fehlen! Eines Tages bringe ich Indy und Rosa hinüber, damit sie dich besuchen können, das verspreche ich dir.«

»Wo ist Rosa?« Tom schaute sich um.

Rosa war verschwunden. Maggy ging auf die Suche und als sie nach einer Weile zurückkam, sagte sie, Rosa sei nirgends zu finden.

Das stimmte nicht. Rosa lag unter Maggys Bett und hatte sich so nah wie möglich an die Wand gedrückt. Das Schniefen verriet sie. Maggy bückte sich und schaute direkt in Rosas trotzige Augen.

»Ich hab zu tun«, hatte Rosa geknurrt und Maggy hatte verständnisvoll genickt und war auf Zehenspitzen davongeschlichen.

»Sag Rosa auf Wiedersehen von mir«, bat Tom unglücklich. »Indigo...«

»Ich gehe mit dir zurück«, sagte Indigo schnell. Jetzt, wo die Zeit gekommen war, jetzt, wo gar keine Zeit mehr war, konnte Indigo es nicht fassen, dass Tom wirklich abreiste. Heute. An diesem Nachmittag. Jetzt. Es war unglaublich. Er und Tom gingen miteinander zurück, sie redeten nicht viel.

Toms Großmutter hatte das Gepäck schon im Wagen verstaut und war bereit für die Fahrt zum Flughafen. Sie begrüßte Indigo, setzte sich ans Steuer und ließ taktvoll die beiden kurz ungestört.

Tom sagte: »Vergiss nicht, Rosa für mich auf Wiedersehen zu sagen.«

»Bestimmt nicht.«

»Wenn du meine alte Gitarre nur leihst, dann musst du sie eines Tages zurückgeben. Deshalb habe ich gesagt, ich leihe sie dir. Es war nicht böse gemeint.«

»Ich weiß.«

»Also tschüs, Indigo.«

»Tschüs, Tom.«

Tom stieg in den Wagen und öffnete das Fenster. Seine Großmutter ließ den Motor an. Beide riefen Indigo etwas zu, aber er hörte es nicht richtig. Vielleicht winkten sie, aber er sah es nicht. Er konnte kaum den Umriss des Wagens erkennen, der davonfuhr.

 

*

 

Hinterher ging er durch die Straßen wie ein Mensch in einem Traum. Seine Füße trugen ihn in die Stadt, aber sein Kopf brachte ihn nirgendwohin. Er fühlte sich so allein, als wäre er aus der Zeit herausgetreten. Er fühlte sich wieder unsichtbar.

Er wusste nicht, wie weit er gegangen war, doch irgendwo unterwegs schloss sich David ihm an. Als Indigo ihn bemerkte, keuchte der schon immer runde und kurzatmige David und war rot im Gesicht vor Anstrengung, mit ihm Schritt zu halten. Das wurde Indigo undeutlich bewusst und er ging ein bisschen langsamer.

David sagte munter: »Hallo, Indigo.«

»Hallo.«

»Ich habe gesehen, dass du mich nicht bemerkt hast. Ich dachte nur, ich frage dich mal, ob du in diesem Sommer hier bist.«

»Ja. Ja, ich glaube schon.«

»Ich dachte, vielleicht könnten wir mal kegeln gehen.«

»Das wäre schön.«

»Vielleicht in den Skateboardpark?«

»Ja. Gute Idee.«

»Glaubst du, Tom würde auch mitkommen?«

»Oh ja«, antwortete Indigo, dann riss er sich zusammen und sagte: »Nein. Er ist zurück nach Amerika.«

»Das ist aber schade.«

»Mhm.«

»Er wird dir fehlen.«

»Ja.«

»Mir auch. Ich habe ihm so gern zugehört. Alle diese Sachen über seinen Vater und die Bären und so. Ich wusste, dass es nicht stimmte, aber ich habe gern zugehört.« Indigo grinste ein wenig.

»Ich kann nicht so erzählen. Ich bin ziemlich langweilig, wenn man uns vergleicht.«

»Wer vergleicht denn?«

»Soll ich dich dann anrufen wegen dem Kegeln?«

»Ja. Danke, David. Ich gehe gern mit.«

 

David verschwand und Indigo ging allein weiter, jetzt viel langsamer. Noch langsamer als David. Langsamer als Rosa, wenn sie von der Schule nach Hause trödelte. Er war schrecklich, schmerzhaft müde.

»Ich bin nur müde«, sagte er, als er durch die Küchentür stolperte und in Maggys Arme fiel.

Zu Hause war die totale Trostmaschinerie der Cassons in Gang. Rosa war unter dem Bett hervorgekommen, Sarah hatte sie mit einem riesigen neuen Zeichenblock gelockt. Jetzt zeichnete sie etwas, das sie unter ihren gekreuzten Armen versteckte.

»Schau nicht«, befahl sie Indigo.

»Bestimmt nicht«, sagte er matt.

Eve kochte.

»Hühnersuppe«, sagte sie stolz. »Etwas ganz Köstliches! Du warst stundenlang weg, Indigo Liebling! Mach ihm eine Tasse Tee, Saffy, und zieh ihm die Schuhe aus. Ich kann jetzt nicht. Immer wenn ich aufhöre zu rühren, bricht diese Suppe aus wie ein Vulkan!«

»Er kann sich selbst die Schuhe ausziehen«, sagte Saffy. »Aber ich mache ihm Tee. Wo ist der große Atlas? Sarah braucht ihn.«

Sarah beugte sich über eine sehr kleine Weltkarte hinten in einem alten Taschenkalender.

»Ich weiß, dass ein Flug schneller wäre«, sagte sie munter zu Indigo. »Ich werde mich noch mit Flügen beschäftigen! Aber im Moment habe ich eine Überlandroute gefunden!«

»Wohin?«

»Nach Amerika natürlich. Durch Europa und Asien. Ganz einfach. Das Beringmeer macht mir ein bisschen Sorge, aber ich wette, es gibt dort eine Fähre! Rümpf nicht so die Nase, Indy! Es geht nur darum, meine Eltern mit dem Wagen nach Frankreich hinüberzubringen und dann dafür zu sorgen, dass sie sich total verirren.«

»Sarah Liebling!«, sagte Eve.

»Sie reisen gern nach Frankreich«, sagte Sarah geduldig. »Und von dort aus geht es immer nur über Land. Mehr oder weniger. Es kommt lediglich darauf an, Richtung Osten zu fahren.«

»Und Kriegsgebiete zu vermeiden«, sagte Safran.

»Und natürlich Kriegsgebiete zu vermeiden. Bis zum Beringmeer. Dann muss man nur noch hinunter durch Alaska und Kanada und hinüber.«

Rosa seufzte tief in ihren Zeichenblock und sagte: »Berge.«

»Berge«, wiederholte Sarah zornig und blätterte in dem großen Atlas, den Safran ihr geholt hatte. »Schau! Hier sind wir! Hier fahren wir los und dort drüben ist unser Ziel. Kaum Berge dazwischen!«

»Schau noch mal!«, sagte Safran. »Diese Teile, die sie lila und blau gefärbt haben? Mit schwarzen Spitzen obendrauf? Wie das hier? Viertausendzweihundertsiebenundzwanzig Meter!«

»Nun, die Alpen vielleicht«, gab Sarah zu. »Und die hier in der Mitte. Der Ural (schrecklicher Name). Und ich nehme an, die Rockies, aber dort muss es Straßen geben.« Bis zum Abendessen hatte sie Wege über oder unter oder um alle hinderlichen Berge gefunden, eine Stunde später eine idiotensichere Methode, ihre Eltern dazu zu bringen, zur Reise zu starten. (»Sie mit billigem französischen Wein betrunken machen. Einen Ortsansässigen bestechen, damit er sie in die falsche Richtung schickt, und dann, wenn sie so weit sind, dass sie nicht umkehren können, ihnen sagen, dass es gut für die Bildung ist!«)

»Das ist möglich«, gab Safran an dieser Stelle zu. »›Gut für die Bildung‹ könnte es bringen!«

Draußen wurde es richtig dunkel. Die Familie ließ die Küche mit den chaotischen Spuren von Eves Suppenkochen im Stich und zog um ins Wohnzimmer. Sarah und Safran legten sich auf den Teppichboden, zwischen sich den Atlas, und suchten russische Fährhäfen. Bald beteiligten sich Maggy und Eve an dem Spiel und überquerten fast mit der gleichen Begeisterung die Kontinente.

Rosa hatte sich still in einer Sofaecke zusammengerollt und träumte über ihrem Block. Was sie gezeichnet hatte, war immer noch verborgen. Ihre Familie schaute vorsichtig weg, alle wussten, dass es ihnen mit der Zeit gezeigt werden würde, um sie zu verwirren oder zu erstaunen.

»Leihst du mir deinen Bleistift, Heckenröschen?«, bat Sarah vom Boden.

Rosa reichte ihn hinunter, Sarah nahm ihn und zog eine dicke schwarze Linie von Russland nach Alaska über das Beringmeer. Sie betrachtete sie eine Weile mit großem Vergnügen und sagte dann: »Jetzt können wir weiter.«

»Alaska.« Maggy schaute Sarah über die Schulter. »Dort gibt es großartige Bären.«

»Macht es dir etwas aus, wenn wir unterwegs eine Pause einlegen und großartige Bären beobachten, Indy?«, fragte Sarah.

»Überhaupt nicht.« Indy schaute auf die Uhr.

Den ganzen Abend hatte er deutlich gespürt, wie die Zeit verging. Um zehn Uhr schaute er wieder auf die Uhr. Toms Flugzeug würde gleich starten.

Indigo schaute aus dem Fenster ohne Vorhang hinaus in die dunkle Sternennacht. Er dachte an die Flugzeuge, die er täglich sah, wenn sie über den Himmel nach Westen flogen. Einige von ihnen mussten wirklich auf dem Weg nach Amerika sein.

Rosa hatte sich leise aus dem Zimmer gestohlen. Indigo, der das Gleiche tat, sah, wie sie im Küchenschrank stöberte und Marmeladetöpfe zur Seite schob. Eine Minute später schlich sie aus dem Haus und in den Garten. Indigo folgte ihr, lautlos schloss er die Tür hinter sich.

»Rosa?«, rief er leise, er wollte sie nicht erschrecken.

»Ich bin hier«, sagte Rosa und Indigo entdeckte sie, wie sie rücklings auf dem Rasen lag und sehr klein aussah. Sie hatte ihre Brille auf.

»Ich betrachte die Sterne«, sagte sie, als er sich neben ihr ausstreckte. »Diese Brille ist sehr gut für Sterne. Überall kann ich sie sehen. Hunderte. Was glaubst du, wie viele es gibt?«

»Tausende und Abertausende.«

»Die beweglichen sind Flugzeuge. Eins von ihnen könnte das von Tom sein.«

»Ja.«

»Ich wusste früher nicht...« Rosa unterbrach sich und schluckte, dann fing sie tapfer wieder an. »Ich wusste früher nicht, dass sie da waren. Die Sterne. Aber jetzt kann ich sie alle sehen. Klar und deutlich. Du auch?«

Indigo stellte plötzlich fest, dass er es nicht konnte. Für ihn waren die Sterne nur silbrige Flecken, die am Himmel verschwammen und sich teilten und auflösten.

»Frances geht es bestimmt wieder gut, wenn er ankommt«, sagte Rosa.

»Ja. Bestimmt.«

»Glaubst du, dass es Tom auch gut geht, Indy?«

»Also«, sagte Indigo, »ich nehme an... ich kann mir vorstellen... er ist jetzt ein wenig traurig. Wie wir... Aber es wird ihm gut gehen.«

»Weißt du noch, wie ich meine Brille gerade bekommen hatte und die Sterne sehen konnte? Und du hast gesagt: Wünsch dir was, wenn einer sich bewegt.«

»Ja.«

»Du hast gesagt, es gilt auch für Flugzeuge.«

»Ja.«

Mehr sagte Rosa nicht, aber sie und Indigo blieben lange, lange draußen, wünschten sich etwas und beobachteten die Sterne, die an ihrem festen Platz und die anderen, die mit roten und grünen Lichtern über den Himmel flogen.

 

***