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Samstagmorgen war Rosa sehr früh auf den Beinen und machte viel Lärm. Indigo
wachte auf und hörte, wie sie unten in der leeren Küche klapperte und klopfte
und sich beschwerte: »Meine Schuhe sind weg! Meine Schuhe sind weg!«
Die Geräusche von Rosas Schuhsuche wurden lauter, dann war es still. Rosa kam wütend die Treppe herauf und war entschlossen, ihre Familie aus dem Bett zu bekommen, damit sie half.
»Safran, ich weiß, dass du wach bist!«
Safran stöhnte und zog sich die Decke über den Kopf. »Meine Schuhe sind verschwunden!«
»Geh weg! Frag Maggy.«
»Maggy schläft.«
»Ich habe geschlafen!«
»Maggy, hast du meine Schuhe gesehen?«
»Pst, Liebling«, murmelte Maggy aus ihren Träumen heraus.
Rosa zog die Vorhänge auf und nahm das Kissen weg, das sich Maggy über den Kopf gezerrt hatte.
»Was ist denn los?«, jammerte Maggy. »Sag bloß nicht, Patrick ist zurückgekommen!«
»Meine Schuhe sind weg.«
»Brille?«, schlug Maggy verschlafen vor. »Vielleicht wenn du deine Brille aufgesetzt hättest? Ja? Nein?«
Rosa stapfte aus dem Zimmer und ging wieder zu Safran. »Stehst du immer noch nicht auf? Ich muss in die Stadt.«
»Nicht mit mir! Nie mehr! Frag Mum.«
Eve war wach und blinzelte verstört aus der Mitte des großen Betts. Rosa, die gewohnt war, dass ihre Mutter sich sehr ordentlich auf einer Seite zusammenrollte und pflichtbewusst Platz für einen unsichtbaren Bill ließ, bemerkte das, sagte aber nichts dazu. Stattdessen ließ sie sich gereizt auf Eves Beine fallen.
»Autsch!«, sagte Eve.
»Wie kann ich ohne Schuhe in die Stadt?«
Eve zog mühsam die Beine unter Rosa hervor und sagte: »Rosa Liebling, wenn du in die Stadt willst, muss jemand mit dir gehen. Und ich glaube nicht, dass irgendjemand jetzt schon so weit ist, Liebling.«
»Dann gehe ich allein. Aber ich brauche meine Schuhe.«
»Nein, nein, nein, nein, nein!«
»Nein?«, wiederholte Rosa erstaunt, weil Eve so gut wie nie nein zu jemandem sagte.
»Tut mir Leid, Rosa! Du kannst nicht allein in die Stadt und ich kann nicht mit. Ich gebe drunten im College meinen speziellen Kunstunterricht. Hast du die neuen Plakate gesehen?«
Rosas Mutter deutete auf den Schlafzimmerspiegel, an dem ein großes buntes Plakat befestigt war.
»Vielleicht willst du auch kommen. Es macht bestimmt Spaß. Reizende Schüler (die meisten vom Gericht geschickt). Maggy wird auch da sein, sie will sie kennen lernen. Und danach könnte ich dich in die Stadt bringen.«
»Danach wäre es zu spät«, sagte Rosa mürrisch, rutschte vom Bett und tappte in Indigos Zimmer.
Indigo war ohne Rosas Hilfe aufgestanden, hatte die chaotische Küche durchsucht und die fehlenden Schuhe hinter dem Mülleimer entdeckt.
Rosa lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen und fragte hoffnungsvoll: »Macht es dir was aus, dich anzuziehen und ganz schnell mit mir in die Stadt zu gehen? Ich muss in den Laden mit Toms schwarzer Gitarre und weiß nicht, um wie viel Uhr er aufmacht. Dort treffe ich Tom.«
»Weiß er das?«, fragte Indigo sehr überrascht.
»Ja. Er hat es in dem Brief geschrieben, den du mir gegeben hast. Aber er hat nur geschrieben, Samstagmorgen. Nicht, um welche Zeit.«
Indigo sah immer noch sehr skeptisch aus.
»Bitte, Indy.«
»Kann es sein, dass du dich irrst?«
»Ich irre mich nie«, sagte Rosa ungeduldig. »Das weißt du doch! Eil dich und ich mache dir ein Sandwich, bis du fertig bist!«
»Oh, meinetwegen«, sagte Indigo.
Toms Großmutter sagte beim Frühstück: »Bitte steck diesen Ball weg, bevor du etwas umwirfst! Bleibst du heute Morgen da und hilfst mir?«
»Ich habe dir gestern Abend geholfen«, protestierte Tom. »Ich habe alle diese stinkenden Katzenpfade gereinigt!«
Toms Großmutter hielt daraufhin ihren Vortrag über das Thema »Die meisten Jungen in deinem Alter wären begeistert über die Chance, etwas für Tiere zu tun«, gefolgt von dem anderen, der begann: »Von den meisten Jungen in deinem Alter wird viel mehr Hilfe erwartet, als man je von dir verlangt.«
Tom löffelte sein Müsli und zeigte keinerlei Interesse, er wartete auf den nächsten Absatz (»Ich merke, dass dein Vater und deine Mutter dich verwöhnt haben, das ist das Schlimme bei getrennt lebenden Eltern. Sie wetteifern und das Kind wird verdorben...«). Im Vorgriff auf den nächsten Satz formte er mit den Lippen unhörbar die Worte: »...Oder hängt es mit der Kindheit in Amerika zusammen?«, während er an die Decke schaute.
»Oder hängt es mit der Kindheit in Amerika zusammen?«, fragte seine Großmutter. »Ich wollte, du würdest nicht so die Achseln zucken! Tom!«
»Du hast mir überhaupt nicht zugehört«, rezitierte Tom mit seinem besten britischen Akzent und seine Großmutter lächelte plötzlich.
»Bist du wieder aufs Dach geklettert? Eine meiner Kundinnen meinte, sie hätte dich gestern Abend dort gesehen. Was sage ich deinem Vater, wenn du fällst und dir das Genick brichst?«
»Sag ihm: ›Gute Neuigkeiten. Alle deine Träume sind wahr geworden‹.«
Seine Großmutter seufzte. »Hast du heute Morgen etwas Besonderes vor?«
»Ja.« Tom trug seinen Becher und die Müslischüssel hinüber zur Geschirrspülmaschine.
»Nicht da hinein! Sie ist voller Katzengeschirr. Spül das am Wasserhahn. Was ist aus diesem Freund von dir geworden?«
»Welcher Freund?«
»Er war mit seiner kleinen Schwester hier. Er hat mir sehr gut gefallen. Sehr schön, wenn ein großer Junge sich so um seine Schwester kümmert.«
Tom rutschte der Becher durch die Finger, landete auf der Müslischüssel und beides zerbrach.
»Tut mir Leid!«, sagte er mürrisch.
»Oh, wirklich, Tom! Na schön, ich kann sehen, dass es aus Versehen passiert ist! Egal! Was wolltest du heute Morgen machen?«
»Ich wollte nur zum Musikgeschäft.«
»Ich habe dich doch gebeten, diesen Ball wegzustecken! Dann fort mit dir, wenn es sein muss. Aber sei zum Mittagessen wieder da... Oh, schau mal! Warte, Tom!«
Sie war ihm zur Tür gefolgt und hatte die Post auf der Fußmatte entdeckt.
»Ein Brief für dich, von zu Hause...«
»Ich lese ihn später«, sagte Tom eilig, lief über die Einfahrt und weiter auf der langen Straße in die Stadt.
Ein Teil von Tom wünschte, er wäre in seinem selbst verschuldeten Heimweh nie zum Marktplatz gewandert, hätte nie das Musikgeschäft und nie die schwarze Gitarre entdeckt. Es war eine weitere Komplikation in seinem bereits zu komplizierten Leben.
Er fing an zu rechnen, wie viele Jahre er sich zurückversetzen müsste, um zu seinem früheren zufriedenen Dasein zu finden. In Gedanken versetzte er sich Jahr um Jahr zurück.
Vergangenes Jahr um diese Zeit?
Das war schrecklich, dachte Tom entschieden.
Vor zwei Jahren um diese Zeit?
Nein.
Dann vor drei Jahren?
Da war er neun gewesen. Tom fand, dass eine Zeitreise zurück zum Neunjährigen ihm ganz gelegen käme. Jenes Jahr war eine gute Zeit gewesen. Er hatte den Sommer bei seiner Mutter verlebt und als er wieder nach Hause kam, hatte er die alte Gitarre mitgebracht. Im folgenden Winter hatte er angefangen, nach der Schule Musikunterricht zu nehmen. Bis er zehn war, machte er gute Fortschritte. Dann folgten die beiden Jahre, in denen er wirklich zu einem Spieler geworden war.
Mit zehn zog sich Tom immer öfter ungesellig in sein Zimmer zurück, sobald er von irgendwo nach Hause gekommen war.
Einmal hatte er ein Gespräch mitgehört.
»Wo ist Tom?«
Sein Vater hatte in einem Ton geantwortet, der verriet, dass er am Ende seiner Geduld war. »Er versteckt sich oben.«
»Gar nicht!«, hatte Tom wütend (und unaufrichtig) geschrien. »Ich übe Gitarre!«
»Entschuldige, Tom«, hatten beide sofort gerufen, und es hatte ihnen wirklich Leid getan. Sie hatten immer viel Respekt vor seiner Gitarre. Nach Louises Theorie war das Instrument sehr wichtig für Tom, weil er es von seiner Mutter bekommen hatte.
In den nächsten Jahren war es die perfekte Entschuldigung geworden.
»Tom, komm und hilf uns entscheiden, welche Farbe der neue Wagen haben soll! Du hast die Wahl!«
»Ich übe!«
»Tom! Es ist Heiligabend, um Himmels willen!«
»Lasst mich in Ruhe.«
»Tom, schau nur, wer endlich nach Hause gekommen ist! Bitte, Tom!«
»Ich übe. Lasst mich in Ruhe.«
In der ganzen Zeit waren Toms Finger kräftiger und flinker geworden. Sie hatten gelernt, sich schneller über die Saiten zu bewegen, als Tom sie lokalisieren konnte. Zuerst hatte er so angestrengt geübt, weil die beiden unten meinten, er sei beleidigt, wenn er still dasaß, doch später spielte er, weil es zu ihm gehörte.
Es war eine alte spanische Gitarre, die Tom von dem Aufenthalt bei seiner Mutter mitgebracht hatte. Das Instrument machte ihn wahnsinnig. Gut fand er daran nur, dass es eine Gitarre war. Alles andere war schlecht.
An der Rückseite war ein Sprung und der Hals war verzogen. Die Basstöne rasselten. Die Stimmwirbel waren so locker, dass sie immer dann den Ton nicht halten konnten, sagte Toms Vater, wenn Tom eine Tür zugeknallt hatte.
Das war weniger als die Wahrheit. Tom war ein häufiger Türknaller, aber er machte es nicht alle paar Minuten. Und so häufig schien seine Gitarre verstimmt zu sein. Sie war einfach abgenutzt.
»Tom«, sagte sein Vater kurz vor Toms zwölftem Geburtstag, als er Kataloge von einem Dutzend Gitarrenläden auf dem Tisch neben sich gestapelt hatte, »komm und schau dir das an. Komm und sag uns, was du dir wünschst.«
»Ich wünsche mir, eine Million Meilen weit weg zu sein«, hatte Tom gesagt.
Tom war nicht gerade eine Million Meilen weit weg gekommen, doch immerhin bis in diese trostlose englische Stadt.
Tom bog von der Hauptstraße ab in die kleine Straße, in der das Musikgeschäft lag, und sah zu seiner Überraschung Indigo und Rosa aus der entgegengesetzten Richtung kommen.
Rosa lief ihm sofort entgegen. Indigo folgte ihr und grinste ein wenig verlegen, als er sah, dass Tom die Augenbrauen so hoch wie möglich gezogen hatte.
»Hast du es geschafft, die vierhundertfünfzig Pfund aufzutreiben?«, fragte Rosa, als sie bei ihm war.
»Nein«, antwortete Tom und seine Brauen sanken nicht tiefer.
»Ich schau nach, ob sie noch da ist«, sagte Rosa, lief davon und drückte die Nase an das Schaufenster des Musikgeschäfts, während Indigo zu Tom sagte: »Sie hat behauptet, du wolltest, dass sie kommt.«
»Wirklich?«
»Und jemand musste mit ihr gehen. Ich werde in der Bücherei sein. Kannst du Rosa dorthin bringen, wenn ihr fertig seid?«
»Ich?«
»Nun, ja«, sagte Indigo. »Sonst muss ich mit in den Laden und dort warten. Du willst doch nicht, dass eine Menge Leute herumhängen und zuhören.«
Eine Menge herumhängender Zuhörer wären Tom überaus angenehm gewesen und er zog die Brauen noch höher, aber dann rief Rosa: »Ich sehe sie!«, und er strich sich mit der Hand übers Haar und entspannte sich plötzlich.
»Ja, ich bringe sie hinüber«, sagte er und lief zu Rosa, um neben ihr ins Schaufenster zu spähen. Im nächsten Augenblick rief er entsetzt: »Sie ist weg!«
»Nein. Sie ist noch da«, sagte Rosa ruhig. »Sie haben sie woanders hingestellt. Jetzt ist sie in der dunklen Ecke hinter der Theke. Ich habe darum gebeten, sie dorthin zu tun.«
»Du?«
»Als wir mit der Schule in die Stadt kamen. Ich habe gesagt, könnten Sie die Gitarre nicht irgendwo hinstellen, wo man sie nicht so sieht.«
Tom schaute Rosa erstaunt an. Sie sagte selbstzufrieden: »Man sieht sie kaum.«
»Na, dann komm schon!« Tom lachte plötzlich, schob die Tür auf und Rosa folgte ihm in den Laden.
Indigo blieb, wo er war, und beobachtete sie durch die Glasscheibe. Rosa deutete auf die schwarze Gitarre. Ein Mann trat vor und reichte sie Tom. Tom nahm sie begierig, hängte sie sich über die Schulter und prüfte die Saiten. Er zupfte eine nach der anderen, dann immer zwei zugleich, wobei er einen Ton eine Zeit lang festhielt, horchte, die Stimmwirbel einstellte und wieder horchte. Er sah jetzt verschlossen, in sich gekehrt aus. Indigo kannte den Ausdruck, er hatte ihn immer wieder auf Rosas Gesicht gesehen, wenn sie in irgendein Bild versunken war.
Tom hörte auf zu stimmen, schaute zu Rosa hinüber, sagte etwas und fing an zu spielen.
Indigo ging über den Platz zur Bücherei und machte es sich mit einem Buch bequem. Er nahm an, dass er lange da sein würde.
*
»Rate, wo ich letzte Woche war«, sagte Maggy zu ihrer Mutter auf der Fahrt zu dem College, wo Eve samstagmorgens den jungen Straffälligen Kunstunterricht gab. »Bei Daddy. Ich bin in seinem Atelier gewesen.«
»Du meine Güte, Maggy!«
»Plötzlich wollte ich es sehen. Ich war noch nie dort.«
»Ich war selbst seit vielen, vielen Jahren nicht mehr dort«, sagte Eve. »Hast du ihm Bescheid gegeben, dass du kommst?«
»Nein. Ich bin einfach hingegangen. Und ich habe es ohne weiteres gefunden und geläutet und da war er. Hat ausgesehen wie immer. Du weißt schon, braun und piekfein und munter.«
Eve seufzte ein bisschen.
»Und er hat gesagt: ›Maggy Liebling, was für eine wunderbare Überraschung! Komm herein! Komm herein!‹« Eve hatte Bills Atelier das letzte Mal vor Rosas Geburt besucht, aber sie erinnerte sich noch sehr deutlich, wie er die Tür aufgerissen und gerufen hatte: »Eve Liebling, was für eine wunderbare Überraschung!«
»Also bin ich hineingegangen«, sagte Maggy, »und alles war sehr schön und ordentlich und auf Hochglanz poliert und er hat mir Tee gemacht und wir haben ihn draußen auf dem winzigen Balkon getrunken, wo er Minze und Kräuter und Ähnliches züchtet.«
»Oh ja. Ich erinnere mich.«
»Er hat einen Tisch, der mit Fotos bedeckt ist. Manche habe ich noch nie gesehen. Eins von Indigo, als er gerade vor Weihnachten aus dem Krankenhaus kam und ganz dünn und hohlwangig aussah. Und eins von Saffy und Sarah im Garten. Und ein großes von Rosa mit ihrer Brille, das er in dem Laden gemacht hat, wo sie das Gestell ausgesucht haben. Sie schaut in einen Spiegel und hinter ihr hängt ein anderer Spiegel, sodass sie sich vorn und hinten spiegelt und dabei immer kleiner wird.«
»Das klingt gut. Was noch?«
»Nichts. Er war einfach nett.«
»War er ganz allein? War sonst niemand da?«
»Ja, ganz allein. Armer Dad.«
Maggy schaute aus den Augenwinkeln zu ihrer Mutter hinüber und fing ihren Blick auf. Sie lachten beide.
»Na schön«, sagte Eve. »Macht nichts. Hier sind wir!«
Sie bog auf den Parkplatz vom College, schaute sich um und schwenkte plötzlich auf eine Gruppe winkender Studenten zu.
»Spike und Lisa und Matthew«, erklärte sie Maggy. »Sie reservieren mir immer einen Parkplatz.... Jetzt sei stark, Maggy!«
»Warum?«
»Nun, Liebling«, Eve sprang aus dem Wagen und lud Dosen mit Spritzlack und riesige Kartonrollen auf die Arme ihrer Studenten, »Daddy würde wohl sagen, es ist nicht gerade Kunst...«
*
Der Verkäufer im Musikgeschäft war eindeutig auf Toms Seite. Er sagte: »Ich habe nachgedacht. Hast du eine Gitarre, die du für diese hier in Zahlung geben könntest? Ich würde einen teilweisen Tausch arrangieren. Würde dir das helfen?«
»Nein«, antwortete Tom. »Meine Gitarre... ich habe so eine alte spanische Gitarre... Nein. Das wäre keine Hilfe. Tut mir Leid.«
Der Verkäufer sagte unglücklich: »Du weißt, was diese hier wert ist. Vierhundertfünfzig ist ein Geschenk.«
»Ja.«
»Wir haben dreihundertachtzig dafür gezahlt. Sie aufpoliert. Zitronenöl an den Hals, neues Band, neue Saiten. Hinten steht ein alter Kasten, den könnten wir dir für sie mitgeben.«
Tom spreizte hilflos die Hände.
»Könntest du jemanden herbringen, der sie sich anhört? Wie steht’s mit deiner Mutter?«
Tom schüttelte den Kopf und ging auf die Tür zu.
»Toms Mutter ist in Amerika«, erklärte Rosa dem freundlichen Verkäufer, »sie kümmert sich um die Bären im Yellowstone Park.«
»Oh.«
»Und sein Vater ist ein Astronaut«, fuhr Rosa fort. »Auf dem Weg zu einem Stern. Und seine Großmutter ist eine Hexe. Ich habe sie gesehen.«
»So.« Diese Informationen verwirrten den Verkäufer offensichtlich. »Da weiß ich auch nicht weiter. Vielleicht soll es einfach nicht sein.«
»Oh doch«, versicherte Rosa.
»Danke jedenfalls«, sagte Tom. »Komm, Rosa.«
Er verließ den Laden und ging rasch davon, ohne sich umzuschauen, aber Rosa, die mit ihm hinausgegangen war, machte plötzlich kehrt und rannte wieder hinein. Der Verkäufer drehte ihr gerade den Rücken zu. Er hängte die schwarze Gitarre nicht mehr in die dunkle Ecke, sondern zurück an den Platz, wo Tom sie Rosa zum ersten Mal gezeigt hatte.
»Nicht dort«, zischte Rosa so wild, dass der Mann sich fast zu Tode erschreckte. »Nicht dort! Und verkaufen Sie sie bloß nicht!«
Tom erinnerte sich plötzlich an sein Versprechen, Rosa in die Bücherei zu bringen. Noch nie zuvor hatte er jemanden irgendwohin begleitet, aber er hatte schon gesehen, wie man das macht. Außerdem wusste er, wie leichtsinnig Rosa sich im Verkehr verhielt. Als sie ihn am Übergang der Hauptstraße einholte, packte er sie deshalb fest am Handgelenk und ließ sie nicht mehr los, bis sie auf der Verkehrsinsel waren und darauf warteten, dass die zweite Ampel Grün zeigte.
»Guck, was du gemacht hast!« Rosa zeigte ihm die violetten Spuren, die seine Finger an ihrem Arm hinterlassen hatten.
Tom gab keine Antwort. Er schaute hinüber auf die andere Straßenseite, wo der rothaarige Bandenführer und zwei seiner Freunde sich krümmten vor Lachen, auf ihn deuteten und schrien.
»Ist sie nicht ein bisschen zu jung für dich, Levin?«
»Hat dein Vater sie dir von irgendeinem Planeten mitgebracht, Tom?«
Die Ampel wurde grün, Tom packte Rosa wieder und führte sie hinüber. Der rothaarige Bandenführer und seine Freunde gingen, immer noch johlend und schreiend, ihres Wegs. Rosa hörte, wie einer von ihnen verächtlich sagte: »Das ist Indigo Cassons Schwester.«
»Sind das die Jungen, die Indigo in der Toilette gespült haben?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich«, antwortete Tom und zog sie so schnell wie möglich über den Gehweg zur Bücherei.
»Warum?«, fragte Rosa.
»Was?«
»Warum?«
»Oh. Nun ja. Ich glaube, er hat sie geärgert.«
Rosa kam es fast so vor, als würde Tom das für einen ausreichend guten Grund halten.
»Man kann nicht ekelhaft zu anderen sein, nur weil sie einen ärgern«, rief sie sehr empört. »Tausende Leute ärgern mich! Millionen Leute ärgern ständig Millionen andere!«
»Das stimmt.« Tom dachte verbittert an zu Hause.
»Man muss sie ertragen«, sagte Rosa.
Dazu sagte Tom nichts.