Rosa fand es nicht gut, als sie hörte, dass Toms Pläne für den Samstagmorgen keinen Besuch im Musikgeschäft einschlossen. Sie sagte: »Sie werden denken, er will die Gitarre nicht mehr.«
»So dumm sind sie nicht«, sagte Indigo.
Rosa war anderer Meinung. Deshalb scheuchte sie am Samstagmorgen Eve früh aus dem Bett und überredete sie, vor Beginn ihres Unterrichts im College eine Fahrt in die Stadt einzuschieben.
»Rosa Liebling!«, protestierte Eve schlaftrunken, als Rosa ihr eine Scheibe Toast, die Schuhe und die Autoschlüssel reichte und sie aus der Tür schob.
Im Musikgeschäft wurde Rosa sofort von dem freundlichen Verkäufer erkannt. Eve lehnte sich neben der Tür an die Wand, um noch fünf Minuten zu dösen, und Rosa nahm die schwarze Gitarre, setzte sich auf Toms Schemel und prüfte ernsthaft die Saiten.
»Hat er nicht kommen können?«, fragte der Verkäufer. »Nein.« Rosa klimperte weiter. »Aber er will sie immer noch, also verkaufen Sie die Gitarre nicht ohne ihn!«
»Ich fürchte, wir können nicht versprechen...«, fing der Verkäufer an und unterbrach sich, weil Rosa ihn so wild anfunkelte.
»Hast du vor, selbst spielen zu lernen?«, fragte er.
»Ich spiele«, sagte Rosa, »oder etwa nicht?«
»Ja, zweifellos. Ja, natürlich spielst du! Er ist Amerikaner, nicht wahr, dein Freund?«
»Ja.«
»Bleibt er lange hier?«
Rosa starrte ihn an. Bis jetzt war ihr noch nicht in den Sinn gekommen, dass Tom keineswegs für immer und ewig in England war. Das war er natürlich nicht. Sie wusste es eigentlich, aber sie hatte einfach nicht daran gedacht.
»Bis zum Sommer«, sagte sie.
»Mir war nicht klar, dass er so bald zurückgeht.«
»Bald?«, fragte Rosa überrascht. »Der Sommer ist nicht bald!«
»Nun, jetzt ist Juni, oder?«, fragte der Verkäufer vernünftig. »Nicht als ob es einem so vorkommt bei diesem Wetter! Kannst du kurz hier allein bleiben?«
»Ja.« Aber Rosa beugte sich tief über die Gitarre, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte, und sie zupfte immer langsamer die Saiten.
Inzwischen war Eve richtig eingeschlafen, im Stehen wie ein Pferd. Sie wachte auf, als jemand durch die Ladentür hinter ihr kam, rieb sich die Augen und rief erstaunt: »Rosa Liebling! Was machst du denn da?«
»Ich probiere diese Gitarre aus«, antwortete Rosa. »Jetzt bin ich sowieso fertig damit.«
»Nun, dann gib sie dem Mann zurück und sag danke.«
Rosa gehorchte ohne Widerspruch, doch draußen auf der Straße konnte sie nicht anders, sie musste fragen: »Hast du Geld dabei, Mummy?«
»Mhm.« Eve stöberte durch ihre riesige, farbverfleckte Schultertasche aus Leinen. »Ja, ich glaube schon, Liebling. Ja, hier ist mein Geldbeutel.«
»Ich meine Geld, das übrig ist. Das du nicht für irgendwas anderes brauchst. Nicht das Geld für Lebensmittel und solche Sachen.«
»Bestimmt habe ich das. Wir können unmöglich schon wieder Lebensmittel brauchen. Ich scheine die Sachen immerzu zu kaufen! Wie viel willst du denn?«
»Wie viel hast du?«
Eve blieb zuvorkommend auf der Straße stehen und schaute nach. »Zwanzig Pfund in Scheinen«, sagte sie, während sie in den Geldbeutel spähte, »und all dieser Kram.«
Sie hielt den Geldbeutel schief, um die verschiedenen Münzen, Farbtubenverschlüsse, Perlen und zerbrochenen Ohrringe darin zu zeigen, gab ihn dann Rosa und sagte vergnügt: »Bitte sehr, Liebling! Bediene dich.«
»Danke. Würdest du sagen, ›bediene dich‹, wenn es vierhundertfünfzig Pfund wären?«
»Ja, wenn ich könnte. Aber ich fürchte, so viel ist es nicht. Noch nicht einmal ein Zehntel davon.«
»Nein«, bestätigte Rosa traurig, schloss den Geldbeutel und legte ihn behutsam in die Tasche ihrer Mutter.
»Wofür wolltest du vierhundertfünfzig Pfund?«
»Für diese schwarze Gitarre.«
»Du meine Güte«, sagte Eve. »Kostet sie so viel? Das ist mehr, als ich je im Leben für etwas ausgegeben habe! Das sind vierhundertfünfzig Farbtuben, wenn man zerdrückte kauft! Sie kann doch unmöglich so viel wert sein!«
Rosa widersprach nicht, weil sie wusste, dass sie ihre Mutter nicht überzeugen konnte. Eve, die ihre Kleider unbeschwert in Wohltätigkeitsläden und an Marktständen kaufte, malte ihre Bilder auf Bills alte Leinwände, brachte Möbel nach Hause, die andere Leute zum Sperrmüll gegeben hatten, und bemaß ihr Bargeld im Hinblick auf zerdrückte Farbtuben. Von ihr war kein Verständnis dafür zu erwarten, dass eine gebrauchte Gitarre vierhundertfünfzig Pfund kostete. Rosa stellte plötzlich fest, dass sie sich nach ihrem Vater sehnte. Er war ganz anders. Seine Brieftasche war prall gefüllt mit Kreditkarten und er trug normalerweise Sachen in seinen Jackentaschen herum, die mindestens vierhundertfünfzig Pfund wert waren.
»Wann kommt Daddy nach Hause?«, fragte sie.
»Das weiß der Himmel«, sagte Eve lässig. »Er hat so viel zu tun. Dieses Wochenende will er nach Paris, sagt er.«
»Ich weiß. Wie ist es in Paris?«
»Wunderbar! Perfekt! Einmal habe ich dort einen Sommer verbracht. Mehrere von uns wohnten außerhalb der Stadt in einem Squat (das ist eine Wohnung, in der du umsonst bleiben kannst, Liebling, solange die Besitzer nicht nach Hause kommen) und ich machte vor einem kleinen Café Skizzen für Touristen und sie kauften mir dafür Kaffee und andere Sachen.«
»Daddy sagt, Paris sei sehr, sehr teuer«, bemerkte Rosa. »Nein«, sagte Eve nachdenklich, »nein. Nun, ich habe dort sowieso kein Geld ausgegeben! Natürlich war das, bevor ich Daddy kennen gelernt hatte! Erzählst du mir, wozu du diese Gitarre haben willst?«
»Du wirst lachen.«
»Nein. Sag es mir.«
»Für Tom.«
Eve schaute Rosa an und lachte nicht. Sie verstand etwas von Herzen, auch wenn sie nichts von Geld verstand. Sie legte einen Arm um Rosa und drückte sie an sich.
*
Während Rosa und ihre Mutter im Musikgeschäft waren, schlich Indigo um den Haupteingang der Stadtbücherei, wartete auf Tom und versuchte unauffällig auszusehen.
Er kam sich vor wie ein auffälliges Individuum. Er kam sich vor, als trüge er ein Schild mit den Worten BÜCHEREIKLETTERER auf dem Kopf. Deshalb und auch weil der Laden mit Computerspielen in dieser Straße ein samstäglicher Treffpunkt für den rothaarigen Bandenführer und seine Freunde war, konnte er nicht in aller Öffentlichkeit auf dem Gehweg warten. Von der Bande und dem dazugehörigen Pöbel bekam er immer noch ein Gefühl der Schwäche und Hilflosigkeit im Magen und es war am schlimmsten, wenn er sie außerhalb der Schule traf. Deshalb blieb Indigo nahe an der Büchereimauer, ging nur hin und wieder hinaus ins Offene, um den Kopf so weit wie möglich in den Nacken zu legen und hochzuschauen. Er redete sich selbst ein, an den Tauben interessiert zu sein, die oben ihre Kreise drehten, aber eigentlich schätzte er in Gedanken die Höhe des Büchereidachs ab.
Es war tatsächlich sehr hoch, fand er.
Die Bücherei war ein Neubau und einige Leute in der Stadt waren sehr stolz darauf, sie behaupteten, er erinnere sie an die Oper von Sydney. Er war aus weißen Betonplatten errichtet und hatte ein flaches Dach, aus dem sieben große Oberlichter aus Glas und Metall ragten, die wie riesige Prismen geformt waren. Indigo starrte hinauf und fand, dass die Tauben verfroren aussahen, als jemand hinter ihm lässig fragte: »Indigniert, Indigo?«
Indigo zuckte zusammen und fuhr herum.
Tom beantwortete seine eigene Frage. »Ja. Er ist indigniert!«
Tom hatte sich die ramponierte Gitarre über die Schultern gehängt, lehnte an einem Telegrafenmast und betrachtete Indigo, der die Tauben betrachtete. Er zog die Augenbrauen hoch und Indigo lachte, seine Stimmung besserte sich unerwartet.
»Schau dir das an!« Tom drehte sich um, sodass Indigo die Rückseite seines Gitarrenkastens sehen konnte. Sie war schmutzig und verspritzt und zeigte einen großen lehmigen Fußabdruck.
»Einer dieser Idioten, die durch die Schule stolpern und sich wer weiß wie cool vorkommen, ist mir nachgegangen. Er hat getreten, so fest er konnte.«
»Was hast du gemacht?«
»Ihn unter einen Bus gestoßen!«, sagte Tom sarkastisch. »Ich habe gar nichts gemacht! Was soll ich schon machen mit dem hier auf dem Rücken und vor all diesen Zuschauern? Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind. Sie sind dann verschwunden.«
»Sie werden im Laden für Computerspiele sein«, sagte Indigo. »Schau nur!«
Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Straße, wo der rothaarige Bandenführer lächelnd vor einer Ladentür stand und eine unflätige Geste machte, als er sah, dass sie ihn bemerkt hatten. Dann verschwand er im Haus.
»Halte mal«, befahl Tom und nahm seine Gitarre ab. »Es dauert keine Minute!«
»Tom, nicht...«, fing Indigo an, aber Tom lief schon die Straße entlang. Indigo sah, wie er den Kopf in die Tür des Spieleladens steckte und so laut rief: »Schon wieder beim Ladendiebstahl, Rotkopf? Du Gauner!«, dass jeder Mensch in Sichtweite sich umdrehte und hinschaute.
»Tom!«, rief Indigo halb lachend, halb ängstlich. »Das wird er dich büßen lassen!«
»Zuerst muss er mich finden.« Tom nahm wieder seinen Gitarrenkasten und rieb behutsam die Lehmspuren ab. »Schau nur, was sie gemacht haben! Sie hätten die Gitarre ohne weiteres zerschlagen!«
»Danke, dass du sie mitgebracht hast.«
»So war es ausgemacht. Und ausgemacht war auch, dass du jetzt mit aufs Dach kommst! Also los! Bevor es regnet und das Glas ganz glatt wird.«
Indigo schaute entsetzt zu den sieben riesigen Oberlichtern hinauf und hoffte, dass er nicht richtig gehört hatte. Tom ging schon voraus ins Haus durch die Drehkreuze, um die schmuddeligen Plätze herum, auf denen bei Kälte alte Männer saßen, und dann über die Rampe, die hinunterführte ins fensterlose Untergeschoss, wo die Kinderbücher aufbewahrt wurden.
»Das ist das Vorgebirge«, erklärte er Indigo, als sie die wimmelnde Wildnis der Belletristik für Erwachsene durchquerten, »und das ist der Gipfel!«
Er deutete hinauf, wo weit über ihnen das riesige zentrale Oberlicht aufstieg und die Haupttreppe beleuchtete.
Gemeinsam gingen sie die Treppe zum ersten Stock hinauf (Zeitungen, Zeitschriften und Allgemeine Nachschlagewerke) und dann weiter zum zweiten Geschoss (Präsenzbibliothek).
»Hier sind nicht so viele Leute«, bemerkte Indigo und schaute durchs Treppenhaus auf die Massen unten.
»Nein«, stimmte Tom zu. »Daran siehst du, dass wir höher kommen!«
Eine freundliche Bibliothekarin bemerkte Toms Gitarre, lächelte und sagte: »Hallo, Jungs! Musik ist oben auf Ebene drei.«
»Danke«, sagte Tom.
Das ganze dritte Geschoss war der Musik gewidmet. Tausende von CDs und LPs. Meilenweit Noten. Schäbige Instrumente, von toten Musikern gestiftet, ungeschützt in offenen Vitrinen. Indigo dachte, wenn irgendwas Tom bremsen könnte, dann diese Instrumente, aber sie hatten überhaupt keine Wirkung.
»Sehr schön«, sagte Tom und lief weiter. Er blieb nie stehen, um etwas anzuschauen, bis ihm ein welliges Plakat mit einem Mann mit Hut auffiel. Da hielt er an und sagte: »He, schau mal, wer hier in England ist! Der alte Bob!«
»Oh ja«, stimmte Indigo zu, es sollte klingen, als wüsste er, wovon Tom sprach.
Tom ließ sich nicht täuschen. »Das ist Bob Dylan!«, erklärte er Indigo. »Hast du noch nie von Bob Dylan gehört?« Und dann, als Indigos Gesicht verriet, dass es (unglaublich!) so war, fuhr er fort: »Das ist, als hättest du noch nie gehört von... noch nie gehört von...«
»Schottland?«, schlug Indigo vor.
»Nein! Wo ist Schottland? Star Wars! Yogibär!... Ach, egal! Ich will dir sagen, wer Bob Dylan mag. Mein Vater. Er hat genau dieses Plakat! Er ist dieser wirklich alte, wirklich alte Rockstar und Hippie!«
»Ich dachte schon, er sei ein Astronaut, der Baseball spielt!«
»Auf welchem Planeten lebst du, Indigo«, fragte Tom ungläubig. »Bob Dylan ist ein alter Hippie und Rockstar, nicht mein Vater! Mein Vater... Du hast einen Witz gemacht, stimmt’s? Komm! Wohin jetzt?«
Sie schauten sich um. Sie hatten das Ende der Haupttreppe erreicht, doch das zentrale Oberlicht war immer noch hoch über ihnen.
»Dort oben sind noch mehr Räume.« Tom schaute hinauf. »Irgendwo muss eine andere Treppe sein. Vielleicht hinter einer seitlichen Tür... Da!«
Er deutete auf eine Tür, an der ein Pfeil nach oben zeigte und die Worte Zum Hörsaal 1 standen. Tatsächlich, dahinter war eine weitere Treppe. Sie gingen durch und stiegen wieder und kamen an einen leeren Gang, der halb mit einem schwarzen Brett versperrt war mit der Aufschrift:
RUHE! PRÜFUNGEN
Tom und Indigo blieben stehen. Man hörte Stimmen und Geigenmusik.
»Es müssen Musikprüfungen sein!«, murmelte Indigo.
»Gut«, sagte Tom. »Wir haben die perfekte Tarnung! Wie kommen wir jetzt hinaus aufs Dach?«
»Ich wette, hier durch.« Indigo wies zu einer Tür am Ende des Ganges, auf der stand: NUR PERSONAL.
»Genau«, stimmte Tom zu. »Jetzt sind wir richtig!«
Von Indigo gefolgt schlich er auf Zehenspitzen an dem schwarzen Brett vorbei und hatte gerade die Hand auf die Klinke der Personaltür gelegt, da wurde sie von der anderen Seite geöffnet. Ein Mann kam heraus.
Tom seufzte tief und der Mann sagte: »Warum schauen Musiker morgens nicht aus den Fenstern?«
»Ich weiß nicht«, sagte Tom.
»Weil sie dann nachmittags nichts mehr zu tun hätten! Du solltest hier drin sein, junger Mann!«
Er führte sie durch den Gang zurück in einen leeren Raum.
»Es sollte nicht mehr lange dauern!«, sagte er freundlich. »Spiel ein paar Tonleitern, während du wartest! Viel Glück!«
»Das gehört alles dazu!«, sagte Tom, als die Schritte des Mannes verklungen waren. »Wir versuchen es noch mal!«
Diesmal schafften sie es unbehindert durch die Tür, an einer kleinen Kaffeeküche, einem Notausgang und einem Schrank vorbei, an dem hilfreich SCHLÜSSEL stand. »Tom!«, sagte Indigo entsetzt, als Tom den Schrank öffnete, sich den Schlüsselbund mit dem Schild Hausmeister in die Tasche schob und die Tür wieder schloss, alles innerhalb einer Sekunde.
»Vertrau mir!«, sagte Tom. »Ich bin Musiker!«
»Dann bist du nicht, wo du sein solltest!«, dröhnte eine Stimme von hinten und sie wurden wieder hinausbefördert, diesmal von einem riesigen bärtigen Mann, der sie in den Warteraum schob und sich an die Tür lehnte, während er fragte: »Sehr aufgeregt?«
»Nein.«
»Dann bring es lieber hinter dich.«
Tom reagierte auf diesen zweiten Rückschlag mit einem so komischen Gesichtsausdruck, dass Indigo nicht aufhören konnte zu lachen. Tom ignorierte ihn, hol
te die Gitarre heraus und fing ernsthaft an sie zu stimmen.
»Hör auf zu lachen!«, befahl der bärtige Bibliothekar Indigo. »Du machst ihn damit nur nervös! Ich muss euch beide allein lassen. Ihr bleibt hier, bis man euch ruft, und keine Dummheiten! Schöne alte Gitarre.«
Tom schaute rasch auf, um zu sehen, ob er scherzte, und sagte: »Der Hals ist verdreht.«
»Oh. Stimmt.«
»Und die Stimmwirbel und die Rückseite sind gesprungen.«
»Zu schade.«
»Sie ist einmal sehr nass geworden, wissen Sie.«
»Herrje.« Der Bibliothekar wich zurück.
»In einem Gewitter. Und. Sehen Sie diese Macke hinten?«
»Ich fürchte, ich muss euch jetzt allein lassen!«
»Das war ein Blitz. Sie wurde von einem Blitz getroffen.«
»Was für ein schrecklicher Zufall«, sagte der Bibliothekar und schoss aus der Tür, bevor Tom ihm noch mehr erzählen konnte.
»Jetzt!«, sagte Tom, und diesmal schafften sie es durch die Personaltür, am Schlüsselschrank vorbei und um die Ecke. Dann eine schmale Treppe hinauf zu einer kleinen verschlossenen Tür. Hier holte Tom die gestohlenen Schlüssel heraus, fand den richtigen mit dem Schildchen Dach, und im nächsten Moment waren sie endlich im Freien.
Das Dach der Bücherei war flach, die Oberlichter überquerten die Mitte wie eine gläserne Bergkette. Ein böiger, kühler Wind wehte und die Wolken, fand Indigo, waren unangenehm nah. Er drückte sich an die kleine Tür, durch die sie gekommen waren, und versuchte, nicht daran zu denken, wie hoch sie waren.
Tom platzte fast vor Freude am Himmel, vor Erfolg und Anarchie. Er schrie: »Juuhuu! Hier sind wir!«, und drehte sich wie verrückt im Kreis. »Seht ihr! Wir haben es geschafft!«, rief er hinauf zu den Wolkenfetzen. Er nahm seinen Gitarrenkasten ab, legte sich mit gespreizten Armen und Beinen auf den Rücken unter dem windigen Himmel und brüllte: »Hallo, Flieger!« Er rannte am Geländer entlang, von der Höhe berauscht, scheuchte die Tauben vom Rand und sagte zu ihnen: »Fliegt, ihr Vögelchen!«
Dann rief er: »Komm, Indigo! Wir schauen hinunter!«
Ein kniehohes Geländer lief um die Dachkante. Tom schoss hinüber, beugte den Oberkörper über die Brüstung und rief den Passanten unten zu: »Hallo, ihr kleinen Leute.« Dann schrie er Indigo über die Schulter zu: »Ich kann das Musikgeschäft sehen.«
»Wirklich?«
»Wenn ich mich richtig weit vorbeuge! Da betrachtet jemand die Gitarren im Schaufenster... He!«
Tom sprang so plötzlich auf, dass er fast das Gleichgewicht verlor, und Indigo spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.
»Kauft bloß nicht meine Gitarre!«, brüllte Tom zur Straße hinunter, und Indigo erklärte er beiläufig: »Sie sind gerade hinein!«
»Geh doch weg vom Rand!«, sagte Indigo.
»Wenn er mit meiner Gitarre herauskommt«, Tom ließ sich auf die Knie fallen, »dann springe ich vom Dach und reiße sie ihm aus der Hand, bevor ihm klar ist, woher ich gekommen bin!«
Dann schien Tom zum ersten Mal zu bemerken, dass Indigo sich nicht amüsierte. Er schaute ihn genauer an und stellte fest, wie Indigo aussah: Nicht besorgt..., dachte Tom... Nicht besorgt... gelangweilt?
»Was ist los?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. Indigo schien nicht sprechen zu können. Seine Knie waren schrecklich schwach und in seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Wie Tom am Geländer herumtänzelte, gab ihm das Gefühl, mit kaltem Wasser übergossen zu werden.
»Komm her und sieh diesem Ball zu!« Tom, immer der Unterhalter, bestimmte, dass Indigo sich nicht langweilen sollte. »Schau nur, wie hoch er springt!«
Er zog einen Ball aus der Tasche, kniete sich ans Geländer, beugte sich darüber, warf den Ball und fiel fast über den Rand, als er sich streckte, um ihn landen zu sehen. Entsetzt stürzte Indigo vor, packte Tom an den Knöcheln und zog ihn zurück, so fest er konnte.
»Au!«, schrie Tom, als sein Hemd hochrutschte und sein nackter Bauch über die raue Brüstung schrammte. »Lass mich los! Autsch!«
Sein Kopf knallte auf den Beton und Indigo hörte auf zu ziehen. Tom schaute ihn wütend an und fragte: »Soll das wieder komisch sein?«
Dann betrachtete er Indigo genauer, der eine schreckliche grüngraue Farbe angenommen hatte, und sagte: »Du hast Angst.«
Indigo kauerte an einem der Oberlichter und ließ den Kopf zwischen die Knie hängen. Er atmete tief, rang nach Luft und stieß sie aus wie jemand, der fast ertrunken ist.
»Angst«, wiederholte Tom und wartete darauf, dass Indigo antwortete: »Ich? Angst?«, und dann vielleicht alle die größeren, wilderen, unendlich gefährlicheren Höhen beschrieb, die er, Indigo, in der Vergangenheit erklommen hatte. Das hätte er getan, wenn er Indigo wäre.
Indigo sagte kein Wort.
»Angst!«, sagte Tom zum dritten Mal und diesmal schaute Indigo mit dunklen, ausdruckslosen Augen auf und sagte: »Ja. Bleib weg vom Rand, bitte.«
Wenn jemand anders (außer möglicherweise Rosa) das zu Tom gesagt hätte, wäre es für ihn das Signal gewesen, auf der Brüstung mit Balancetricks anzufangen.
Aber es war nicht nötig, Indigo etwas vorzumachen. Indigo machte ihm auch nichts vor.
Also sagte Tom (zu seinem eigenen Erstaunen): »Ich bleibe weg vom Rand. Mach dir keine Sorgen. Gleich geht es dir besser.«
Indigo nickte.
»Richtig gut wird es dir gehen«, sagte Tom beruhigend. Tom fing an, sich selbst richtig gut zu fühlen. Er fühlte sich wie der Leiter einer Expedition, der sich um sein Team kümmert. In der vergangenen Woche war es schwierig gewesen, die Verantwortung für Rosa zu übernehmen, sie vom Musikgeschäft zur Bücherei zu bringen, ohne auf der Straße überfahren zu werden, aber der Grund war, dass er nie zuvor so etwas getan hatte. Jetzt hatte er Erfahrung. Es war nicht mehr das erste Mal. Er sagte zu Indigo: »Entspanne dich einfach. Es passiert dir nichts, wenn ich dabei bin.«
Indigo hob das blasse Gesicht und bekam ein kleines Lächeln zu Stande. Tom freute sich.
»Lass den Kopf hängen, bis es dir besser geht. Wir haben keine Eile. Ich bleibe hier.«
Er setzte sich an das Oberlicht gegenüber dem von Indigo und nahm seine Gitarre aus dem Kasten.
Die Zeit verging. Es war schwer zu spielen, so an eine schiefe Oberfläche gekauert. Vorsichtig stand Tom auf. Er zupfte leise, schlug ein paar Akkorde an und summte ein wenig. Zu schade, dass es keine Sitzgelegenheit gab hier oben auf dem Dach, aber er schaffte es, einen bequemen Platz zu finden, indem er sich am Glas hochschob. Während er Indigo nicht aus den Augen ließ, suchte er nach einer Melodie, erinnerte sich an das Plakat in der Bücherei, grinste und fing an, richtig zu singen.
»Schau nicht hinunter, Indigo, wenn sie vorübergehen...«
Er unterbrach sich und sagte: »Hör zu, Indy. Das ist eine Melodie von Bob Dylan!«
»...Dein Bild kannst du am Himmel sehen...«
Der bequeme Platz, den er gefunden hatte, war zufällig oben auf dem höchsten Oberlicht. Er hatte es rückwärts erstiegen und das nicht bemerkt.
»Doch wissen sie, du kannst nicht fliegen, das nehmen sie dir krumm.
Uns fällt es schwer, schleunigst abzuhauen.
Hier gibt es kein Versteck, wie dumm...
An diesem Bimmelbammelmorgen. Dem Regen ist nicht mehr zu trauen...«
Indigo, der schon lächelte, sah überrascht hoch und fing dann an zu lachen, als der Regen, den er gar nicht bemerkt hatte, plötzlich doppelt so heftig fiel.
»Eines Tages sollten wir auf diesen Kirchturm steigen«, sagte Tom, als er sah, dass Indigo wieder lebendig geworden war. »Das würde deine Höhenangst heilen! Von hier aus kann ich meilenweit sehen! Direkt hinüber zur Schule. Ich werde bestimmt auf die Schule steigen, bevor ich abreisen muss... Was ist denn jetzt los?«
»Was glaubst du, wie du von unten aussiehst?«
»Was soll das heißen, von unten?«, sagte Tom, schaute dann hinunter und sah genau, was Indigo meinte. Das Oberlichtglas war dick und mit einem Stahlnetz verstärkt, aber er konnte trotzdem Bewegung darunter wahrnehmen. Dutzende kleiner farbiger Flecken, Dutzende Menschen gingen die Büchereitreppe hinauf und hinunter. Jeder von ihnen konnte jederzeit hochschauen und feststellen, dass da jemand auf dem Büchereidach saß.
»Hoppla!«, sagte Tom und rutschte blitzschnell am Glas hinunter. »Zeit zu gehen! Ist jetzt alles okay?«
»Ja.«
»Dann lass uns rennen!«
In einer Minute waren sie unter dem Himmel gewesen, in der nächsten liefen sie durch den Gang und an dem Zimmer vorbei, wo immer noch die Musikprüfungen stattfanden, schlossen die Tür zum Dach wieder ab, legten die Schlüssel zurück und gingen ungehindert durch die Personaltür.
Dann waren sie auf dem Stockwerk darunter. (»Sag tschüs zu Bob!«, sagte Tom. »Tschüs, Bob«, sagte Indigo brav.)
Im nächsten Stockwerk lächelte der Bibliothekar, der Tom geraten hatte, seine Tonleitern zu üben, sie an und fragte: »Wie ist es gelaufen?«
»Gut«, antwortete Tom und der Mann nickte und sagte: »Das wusste ich!«
Im Handumdrehen waren sie wieder auf der Straße. Tom schaute zum höchsten Oberlicht hinauf und sagte: »Eine Taube sitzt dort, wo ich gesessen habe!«
Indigo schaute zu Boden und entdeckte Toms Ball, der in den Rinnstein gerollt war.
»Das muss unser Glückstag sein!«, sagte Tom.
»Fang!«, sagte Indigo.
Er warf den Ball und Tom fing ihn. Dann warf Tom ihn zurück und Indigo fing ihn nicht und Tom sagte: »Wieso hast du den nicht gekriegt?«
»Komm, wir suchen Rosa«, sagte Indigo.