ndigo
suchte überall, aber in der Schule konnte er Tom an diesem Freitagnachmittag
nicht finden. Schließlich gab er auf und fuhr mit Safran und Sarah im Bus nach
Hause. Sie kamen gerade zusammen in die Küche, als Rosa den Telefonhörer
aufknallte.
»Wer war das?«, fragte Safran.
»Der dumme Daddy.«
»Oh?«
»Er hat nach Suppe gefragt. Er hat gesagt, ich hätte ihm einen Brief geschrieben, in dem es nur um Suppe geht. Das stimmt nicht. Ich habe nur am Ende was von Suppe geschrieben. Das war nicht der wichtige Teil. Jedenfalls kommt Daddy nicht nach Hause.«
»Mach dir nichts draus, Heckenröschen«, sagte Sarah tröstend.
»Ich mach mir bestimmt nichts draus! Gut so! Das ist es, was ich sage! Wem gehört diese Jacke, Indigo?«
»Tom. Er hat sie in der Schule gelassen. Ich bringe sie ihm nach Hause.«
»Kann ich mitkommen? Wo wohnt er?«
»Das weiß ich«, sagte Sarah. »In dem Haus mit den Eiben neben meiner alten Schule. Seine Großmutter unterhält sich manchmal mit meiner Mutter. Sie hat aus ihrem Haus eine Katzenpension gemacht. Es ist voller Katzen.«
»Wenn es eine Katzenpension ist«, Safran häufte den Stapel Hausaufgaben für das Wochenende auf den Küchentisch, »dann muss es voller Katzen sein! Womit fangen wir an? Französisch, Spanisch, Mathe? Nicht Informatik. Die machen wir auf unserem PC, wenn wir Rosa in die Stadt gebracht haben.«
»Ich will nicht in die Stadt gebracht werden«, sagte Rosa undankbar. »Ich will mit Indigo gehen.«
»Nicht jetzt«, sagte Safran. »Morgen früh. Wir lassen deine Brille prüfen. Sarahs Mutter sagt, das solltest du machen, und unsere sagt, das kannst du.«
»Das wird lustig«, sagte Sarah. »Dabei könnte alles Mögliche passieren! Aber geh jetzt mit Indy, während Safran und ich mit diesen Sachen hier anfangen. Los, Saffy! Das Schlimmste zuerst. Mathe. Mal sehen, ob wir damit fertig werden, bevor sie zurückkommen. Wenn sie zurückkommen! Als ich klein war, hatte ich immer Angst vor diesem Haus. Ich weiß nicht, warum.«
»Es ist unheimlich!«, sagte Rosa.
Sie stand auf dem Gehweg und betrachtete Toms Haus, während Indigo laut das Schild am Tor las.
DIE EIBEN-KATZENPENSION
LIEBEVOLLE PFLEGE UND ZUWENDUNG
IN LUXURIÖSER UMGEBUNG
NUR GEIMPFTE KATZEN
»Es ist sehr unheimlich«, sagte Rosa und umklammerte das Bündel, das aus Toms Jacke und Schultasche bestand.
»Es ist nur still«, sagte Indigo, aber insgeheim stimmte er Rosa zu.
Von der Straße aus sah man nur dunkle Eiben und hohe Schornsteine darüber, aber als Rosa und Indigo über die mit Unkraut bewachsene Einfahrt gingen, konnten sie kurz in einen Garten schauen, der so ungepflegt war wie der von den Cassons.
»Und er ist voller Katzen«, sagte Rosa.
Das stimmte. Sie wurden von mindestens einem halben Dutzend grüngoldener Augenpaare beobachtet, die aus dem Dunkeln blinzelten. Auf halbem Weg sahen sie jemanden, der über das Gras hinter dem Haus ging.
»Das muss Toms Großmutter sein«, sagte Indigo. »Wir sollten ihr lieber hallo sagen. Komm. Lächle. Sei höflich... Hallo, Mrs Levin?«
»Ja. Was kann ich für euch tun?«
Rosa sagte lächelnd und höflich: »Das ist hier wie in einem Katzenzoo. Überall Katzen.«
»Und wer seid ihr?« Toms Großmutter schaute fragend von Indigo zu Rosa und dann wieder zu Indigo.
»Ich bin Indigo Casson«, erklärte er und legte Rosa die Hand auf die Schulter, damit sie schwieg. »Tom ist in meiner Klasse in der Schule. Wir haben ein paar Sachen gebracht, die er heute Nachmittag dort gelassen hat. Das ist meine kleine Schwester Rosa.«
»Kleine Schwester?«, wiederholte Toms Großmutter und schaute wieder Rosa an. »Wie interessant! Das muss ich Tom erzählen!«
»Ist er da?«
»Ich weiß nicht«, sagte seine Großmutter ziemlich ungeduldig. »Er kommt und geht, wie es ihm gefällt. Kein Verantwortungsgefühl... genau wie seine Mutter... Hat er euch von seiner Mutter erzählt?«
»Bären?«, fragte Rosa hoffnungsvoll.
»Bären!«, wiederholte Toms Großmutter verächtlich. »Ich bitte euch! In ihrem Alter! Ich weiß wirklich nicht, was ich von ihr halten soll...«
»Mögen Sie keine Bären?« Rosa zappelte unter Indigos Hand auf ihrer Schulter.
»Natürlich mag ich Bären.« Mrs Levin betrachtete Rosa, als fände sie etwas an ihr amüsant. »Aber nicht so, dass alles andere unwichtig wird. Jetzt, fürchte ich, muss ich weiter. Ich muss mich um die Katzen kümmern. Die Tür an der Hausseite ist nicht abgeschlossen. Macht sie auf und ruft Tom, wenn ihr wollt.«
Sie verabschiedete die beiden mit einem Nicken und ging zu einer Reihe von Gehegen aus Schlackensteinen und Draht hinter dem Haus.
»Sie ist eine Hexe«, sagte Rosa viel zu schnell.
»Rosa!«
»Armer Tom!«
»Und wenn sie dich jetzt gehört hat?«, fragte Indigo. »Dann weiß sie, dass ich es weiß. Horch! Horch mal eine Minute!«
Indigo, der Rosa energisch von der Rückseite des Hauses wegsteuerte, blieb einen Augenblick stehen.
»Musik!«, sagte Rosa.
Eine Melodie schien von weit oben zu kommen, sie wurde von Akkorden begleitet, wiederholt, dann abgebrochen und erneut mehrmals behutsam wiederholt.
»Jemand spielt etwas«, flüsterte Rosa.
Einzelne Töne kamen sehr schnell, wie ein Sternregen.
»Sie werden in Mustern gespielt!«, sagte Rosa fasziniert. »Die Töne bilden Muster.«
Dann hörten sie wieder die Melodie, jetzt stärker und klarer.
»Ich glaub, es ist eine Gitarre«, sagte Indigo. »Es muss Tom sein.«
So leise wie möglich gingen er und Rosa zur Seitentür des Hauses.
Die Musik wurde unterbrochen, als sie die Tür öffneten, dann erklang sie wieder, aber jetzt sehr langsam, ein Ton nach dem anderen, als würde der Musiker aufmerksam zuhören.
»Tom!«, rief Indigo.
Das Spiel hörte nach einem Augenblick auf und die Stille fiel auf sie nieder wie ein Stein vom Himmel.
Aus dem Garten hinter ihnen rief Toms Großmutter: »Toms Zimmer ist oben am Ende der Treppe, wenn ihr hinaufgehen wollt.«
»Danke«, rief Indigo zurück, aber dann packte er Rosas Hand und sagte: »Nein, Rosa! Geh nicht hinauf!«
»Warum nicht? Sie hat es uns erlaubt!«
»Er weiß, dass wir da sind. Er würde herunterkommen, wenn er uns sehen wollte.«
»Aber ich habe ihm seine Jacke und seine Schultasche mitgebracht! Lass mich hinauf. Ich werde klopfen. Ich gehe nicht einfach hinein.«
Bevor Indigo sie aufhalten konnte, hatte Rosa sich losgerissen, lief die Treppe hinauf und klopfte an die Tür des Zimmers, die sofort aufsprang. Da lag Toms Zimmer, kahl und aufgeräumt und leer. Kein Tom, keine Gitarre, nichts als der Wind, der durch das offene Fenster hereinblies.
»Lass seine Sachen da und komm sofort herunter!«, befahl Indigo und ging weiter, bevor sie anfangen konnte zu widersprechen.
Rosa tat wie befohlen. Als Indigo am Ende der Einfahrt ankam, hörte er, wie sie hinter ihm herlief.
»Sei nicht böse«, sagte sie, »ich wollte ihn doch nur sehen.«
»Ich weiß.«
»Wo er wohl ist?«
Wie zur Antwort schwebten ein paar Töne aus dem Himmel herunter.
Indigo legte den Finger an die Lippen, damit Rosa still war, drehte sich um und betrachtete das alte graue Haus hinter dem Wall von Bäumen. Nach einer Minute fand er, was er suchte, und winkte Rosa.
Rosa schaute in die Richtung, in die er deutete, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Dort oben ist er«, murmelte Indigo. »Auf diesem kleinen flachen Dach über der Haustür... horch!«
Die schwebenden Klänge vereinten sich zu einer komplizierten Hintergrundmelodie.
»Er summt!«, flüsterte Rosa. »Auf dem Dach spielt er seine Gitarre und summt. Nicht wahr?«
Indigo nickte.
Sie hörten gemeinsam zu, bis die Melodie endete, die Gitarre leiser wurde und schließlich verstummte.
»Nach Hause, Heckenröschen!«, sagte Indigo schließlich und drehte sich um. »Wir waren eine Ewigkeit weg!«
»Ich liebe Leute, die auf Dächern Gitarre spielen!« Rosa hüpfte auf dem Gehweg, sie war in einer ihrer unvermittelt glücklichen Stimmungen. »Du nicht?«
»Bis jetzt habe ich noch niemanden gekannt, der das macht!«
»Magst du Tom nicht?«
»Natürlich mag ich ihn. Aber über all die anderen Gitarrenspieler auf Dächern weiß ich nichts! Sie könnten ganz schrecklich sein und nur diese eine gute Seite haben. Auf Dächern Gitarre spielen. Oder Dudelsack. Oder Schlagzeug... Sarah würde das gefallen, und Saffy könnte den Dudelsack spielen! Für Maggy wäre vielleicht eine Harfe das Richtige... Und Mum?«
»Einer dieser ausgehöhlten Kürbisse mit Bohnen!«, sagte Rosa sofort. »Und Daddy könnte einen Flügel bekommen. Auf einem flachen Dach. Mit einem Balkon und rosa Blumen in Töpfen am Rand! Und ich würde eine sehr laute Trompete spielen! Und du?«
»Ich würde einfach zuhören«, sagte Indigo.
*
Am nächsten Morgen ging Rosa mit Safran und Sarah in die Stadt. Sarah, deren Beine sie nur über kurze Strecken trugen, saß in ihrem Rollstuhl. Heute hatte sie einen ihrer wilden Tage, an denen sie in wahnsinnigem Tempo durch die Straßen rollte und schrie: »Schieb schneller!« Der Gang in die Stadt wurde zu einem verrückten Rennen mit atemlosen Pausen, in denen sie den Rollstuhl aus den verschiedenen Hindernissen ziehen mussten, in die er versehentlich gesteuert worden war. Rosa fand das alles ganz wunderbar.
Doch als sie das Einkaufsviertel erreichten, änderte sich die Lage. Safran und Sarah kauften für ihr Leben gern ein. Alle ihre Lieblingsläden mussten aufgesucht und die neuen Waren bis in alle Einzelheiten kritisch gemustert werden. Sie kamen immer langsamer voran. Als sie dann im Kaufhaus mit dem Optiker eintrafen, langweilte sich Rosa nur noch.
Ihre Brille und die Augen wurden wieder geprüft und Rosa erfuhr, dass sie genau das verschrieben bekommen hatte, was sie brauchte, an der Brille war nicht das Geringste auszusetzen.
»Aber sie hat gesagt, dass sie damit nichts sieht!«, protestierte Safran.
»Das stimmt nicht«, sagte Rosa. »Ich habe gesagt, dass ich zu viel sehe. Überhaupt will ich sie nicht Umtauschen. Bei Dunkelheit ist sie gut.«
»Mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen«, sagte der Optiker freundlich und wandte sich Sarah zu, die sich mit einem Sortiment italienischer Sonnenbrillen beschäftigte für den Fall, dass es wieder Sommer werden sollte.
Rosa ging hinüber zum Schaufenster, und während sie dort stand, hörte sie, wie Safran beiläufig zu Sarah sagte: »Dort ist Indigos Tom.« Dabei wies sie mit einer Kopfbewegung auf einen Jungen, der direkt vor dem Laden die Straße überquerte.
»Mhm«, antwortete Sarah. »Guck mal die da. Roter Lack. Zu rot?«
»Weiß nicht. Lass mich mal anprobieren.«
»Viel zu rot! Wie ist denn die mit den winzigen goldenen Flecken...«
Rosa stahl sich zur Tür. Safran und Sarah waren so mit Designermarken beschäftigt, dass sie nichts bemerkten. Rosa schlüpfte aus dem Laden. Dann lief sie über den belebten Gehweg, vergewisserte sich, dass niemand ihr folgte, und rannte über die sechsspurige Straße mit dem Samstagmorgenverkehr.
Autos bremsten, Hupen kreischten, Menschen schrien, ein Busfahrer wich mit seinem Fahrzeug aus und fluchte. Auf dem Gehweg gegenüber drehte Tom sich um, er wollte sehen, was der Grund für die Aufregung war. Er konnte Rosa gerade noch auffangen, als sie triumphierend auf dem Randstein vor ihm landete.
Hoch oben auf einem nahen Gerüst spendete eine Gruppe Arbeiter Beifall.
Tom schaute mit einem kurzen, unwilligen Grinsen hinauf. Rosa beachtete die Männer gar nicht, sie strahlte Tom an und erklärte: »Ich wollte dich sehen!«
»Scheint so!«, stimmte Tom zu und schaute viel sagend auf die Fahrbahn, wo sich der Verkehr gerade wieder entwirrte. »Überquerst du die Straße immer so?«
»Ich hatte es eilig.«
»Da muss doch jemand in der Nähe sein, der angeblich für dich verantwortlich ist?«
»Ich brauche niemand, der für mich verantwortlich ist!«, sagte Rosa verächtlich.
»Ich wette, du bist deiner Mutter ausgerissen!«
»Bin ich nicht. Sie ist zu Hause.«
»Weiß sie, dass du in der Stadt bist?«
»Natürlich weiß sie das.«
Tom gab es auf. Offensichtlich hatte Rosa irgendwo eine sehr leichtsinnige Familie, aber das war nicht sein Problem. Er ging weiter die Straße entlang. Rosa hüpfte vergnügt neben ihm her.
»Wohin gehst du?«, fragte sie.
»Zum Musikgeschäft um die Ecke.«
»Willst du etwas kaufen?«
»Nur anschauen.«
»Na schön«, sagte Rosa.
Beim Musikgeschäft blieb Tom wieder stehen.
»Du bist also immer noch da, und wer bist du überhaupt?«
»Ich bin Rosa.« Sie war sehr erstaunt, dass er das nicht wusste. »Indigo ist mein Bruder.«
»Ooh!« Tom fing an zu verstehen.
»Wir waren gestern Abend bei dir zu Hause, wir haben dir deine Jacke und deine Schultasche gebracht.«
»Ja. Danke.«
»Und wir haben gehört, wie du gespielt hast. Auf diesem kleinen hohen Dach über der Haustür.« Rosa schob sich an Tom vorbei und spähte in das Schaufenster, das voller Gitarren auf Ständern war. »Welche von denen ist wie deine?«
»Keine.«
»Wir haben deine Großmutter gesehen.«
»Sie ist eine Hexe«, sagte Tom zerstreut und schaute angestrengt in den dunklen Hintergrund des Ladens.
»Das habe ich mir gedacht. Katzen auch.«
»Ja, Katzen auch.«
»Sie hat schön geklungen, deine Gitarre...«
»Meine Gitarre taugt nichts. Sie ist eine von den allerschlechtesten. Die dort möchte ich haben. Sie hängt dort hinten an der Wand. Siehst du sie?«
»Diese schwarze?«
»Das ist sie. Ich war letzte Woche schon zweimal hier und habe sie ausprobiert. Ich hatte Angst, dass sie inzwischen verkauft ist.«
Rosa nickte und Tom kam es vor, als würde wenigstens sie teilweise verstehen, wie schlimm das wäre. Er stieß die Ladentür auf und sie folgte ihm hinein, als gehörte das Ausprobieren von Gitarren zu ihrem üblichen Samstagmorgenprogramm.
Der Mann hinter der Theke erkannte Tom, kam lächelnd auf die beiden zu und fragte: »Wie immer?«
»Ja bitte«, sagte Tom.
Der Mann nahm die schwarze Gitarre herunter und gab sie ihm. Tom setzte sich auf einen der freien Hocker, die es gab, damit Kunden Instrumente ausprobieren konnten, und fing an zu spielen.
Niemand schenkte Rosa auch nur die geringste Beachtung. Rosa machte das nichts aus. Sie suchte sich einen anderen Hocker und setzte sich in eine Ecke, um zuzuhören, während im Hintergrund des Ladens Akkorde und Melodien und gesummte Töne zu hören waren. Sie wusste bereits, warum Tom die schwarze Gitarre haben wollte. Selbst Rosa merkte, dass die Klänge, die sie jetzt hörte, reiner und kräftiger waren als die vom Abend zuvor.
Es dauerte lange, mindestens eine halbe Stunde, bis der Verkäufer zurückkam und schweigend die Hand ausstreckte.
»Ich habe dir vor einer Minute einen Gefallen getan«, sagte er. »Und einen Kunden weggeschickt. Ich habe ihm gesagt, meiner Meinung nach sei die Gitarre verkauft.«
»Danke.« Langsam stand Tom von seinem Hocker auf und schob das Trageband von seiner Schulter.
»Sie ist so günstig, dass sie bald weg sein wird. Wenn du eine Anzahlung zusammenbekommen würdest, könnten wir sie für dich weglegen.«
Tom schüttelte den Kopf. »Ich würde es machen, wenn ich könnte.«
»Nun, vielleicht fällt dir eine Lösung ein.« Der Verkäufer sah fast so bedauernd aus wie Tom, als er die schwarze Gitarre wieder an ihren Platz an der Wand hängte. »Lass sie das nächste Mal nicht so gut klingen!«
Tom grinste und ging zur Theke, wo er zwei Plastikplättchen aus einer Schachtel bei der Kasse nahm. Der Verkäufer schüttelte den Kopf, als er mit einem Pfundschein bezahlen wollte, und sagte, sie gingen auf Kosten des Hauses. »Bestimmt?«, fragte Tom.
»Ja. Kein Problem. Komm wieder, wenn du willst.«
»Danke.«
»Wie viel kostet diese schwarze Gitarre?« Zum ersten Mal seit langer Zeit meldete sich Rosa.
»Vierhundertfünfzig Pfund«, antwortete der Verkäufer.
»Oh.«
»Sie müsste eigentlich viel teurer sein, aber wir machen hier nicht den entsprechenden Umsatz. Neu würde sie weit über tausend kosten.«
Rosa sagte nichts mehr, aber draußen auf der Straße blieb sie stehen, betrachtete wieder die Auslage im Schaufenster und fragte: »Würde es eine von diesen nicht auch tun?«
»Nein«, sagte Tom.
Rosa seufzte. »Also gut. Was machen wir jetzt?«
»Ich weiß nicht.« Beim »wir« hatte Tom ein wenig die Augenbrauen hochgezogen. Er schaute sich um und dann hinauf zum Himmel, der von einem kalten Blassblau und voll eilig ziehender Wolken war. »Diese Stadt ist so flach«, sagte er gereizt. »Lass uns wohin gehen, wo es ein bisschen hoch ist.«
Safran und Sarah gerieten mit jeder Minute in größere Panik, während sie im Kaufhaus nach Rosa suchten. Dann in den Läden draußen an der Straße. Dann auf dem Marktplatz. Immer wieder holte Sarah ihr Handy heraus und rief bei Safran zu Hause an. Niemand antwortete. Indigo war im Garten und säuberte das Gehege der Meerschweinchen, die Maggy widerstrebend zurückgelassen hatte, als sie zur Uni gegangen war. Eve malte im Gartenhäuschen den Hintergrund eines Gemäldes mit Hilfe eines Tapetenmusters aus, weil der Käufer um ein Bild gebeten hatte, das mit den minzgrünen Streifen harmonierte. Sie war sehr froh, dass Bill an diesem Wochenende nicht nach Hause kam. Seine Kommentare konnte sie sich nur zu gut vorstellen. Nicht gerade Kunst.
Bill war in einer Londoner Ausstellung. (»Vernissage mit Getränken, Liebling«, hatte er erklärt — allerdings nicht Eve. »Dabei kann es zu nützlichen Begegnungen kommen.« — »Dann geh, Liebling«, hatte Liebling gesagt.)
Maggy war ebenfalls in London und demonstrierte für den Frieden mit einem weiteren zeitweiligen Freund. (»Der völlig harmlose Patrick. Mum könnte er gefallen.«) Friedensdemos zogen sich hin, deshalb vertrieb Maggy sich die langweiligen Momente damit, im Kopf einen weiteren Brief an Michael zu entwerfen (Liebster, liebster Michael...).
Auch Michaels Aufenthaltsort ließ sich feststellen. Er besuchte einen Kurs in erster Hilfe, von dem er wusste, dass er eines Tages nützlich sein würde; vielleicht wenn Maggy, deren Zukunft mit seiner verflochten war, die angestrebte Stellung in einem großen Wildreservat irgendwo in den Tropen bekam.
Selbst Derek-vom-Camp war, wo er sein sollte, er lag teils innerhalb, teils außerhalb seines Schlafsacks und kritzelte ein Bild auf den Rand seiner Doktorarbeit (Physik und das Paranormale). Es hätte Maggy darstellen können oder Eve. Er war kein großer Künstler.
Nur Rosa war nicht, wo sie sein sollte.
Safran und Sarah suchten in den beiden Läden für Zeichenbedarf, die es in der Stadt gab. Im eleganten, in den Bill ging, wenn er gezwungen war, außerhalb von London Material zu kaufen (»Man weiß schließlich, dass man Qualität bezahlen muss«) und im vergammelten (in dem es außerdem Glückwunschkarten, Feuerwerkskörper und unglaublich billige Armbanduhren gab), in den Eve immer ging, weil sie da auf zerquetschte Farbtuben fantastische Rabatte bekam.
Rosa war nirgendwo.
Rosa war bei Tom. Sie standen auf dem Betonkasten, der den Luftschacht auf der obersten Ebene des mehrgeschossigen Parkhauses bedeckte. Niemand war in der Nähe. Hier oben parkte nie jemand außer in den Wochen vor Weihnachten.
Rosa fühlte sich völlig sicher. Wenn sie fiel, dann nur ein paar Meter auf die Parkebene darunter. Gerade erzählte sie Tom, wie groß früher Indigos Höhenangst gewesen war und wie er sich fast, aber nicht ganz davon geheilt hatte, indem er sich aus seinem Zimmerfenster abseilte.
Aus dieser Höhe konnten Rosa und Tom direkt auf den Marktplatz schauen. Die Menschen (für Rosa kleine bewegliche Farbkleckse) schienen ohne Zögern vorbestimmte Wege zwischen den Ständen zu gehen. Tom zeigte auf die Skateboarder und behauptete, er steuere sie mit seiner unsichtbaren Fernbedienung zur Skateboardkontrolle. In Amerika habe jeder so ein Gerät, erklärte er Rosa, und es sei sehr nützlich. Eltern setzten damit ihre Kinder in Gang, programmierten die Koordinaten und schickten die Kleinen stundenlang in den Park, wo sie völlig sicher seien und ihre Runden drehten. Rosa hörte glücklich zu, lachte an den richtigen Stellen und unterbrach ihn nicht zu oft. Tom stellte fest, dass sie ihm immer sympathischer wurde. Ein so unkritisches Publikum hatte er schon lange nicht mehr gehabt.
Obwohl Rosa spät am Nachmittag nach Hause kam, war sie früher da als Safran und Sarah, die in ihrer Verzweiflung zur Polizei gegangen waren. Inzwischen hatten sie es geschafft, nicht nur Rosa, sondern auch Sarahs Handy zu verlieren. Doch eine Polizistin rief für sie zu Hause an und Eve, die inzwischen aus ihrem Gartenhäuschen gekommen war, antwortete sofort und sagte: »Aber Rosa ist hier. Bei mir. Sie ist vor ein paar Minuten gekommen. Sie hat ganz allein den Heimweg gefunden. Sie zeichnet... was zeichnest du, Rosa Liebling?«
»Tom auf dem Dach«, sagte Rosa.
»Sie zeichnet Tom auf dem Dach.« Eve war so hilfsbereit wie möglich, weil sie es schließlich mit der Polizei zu tun hatte. »Mit Pastellkreiden. Nicht mit Ölfarben.«
»Ich benutze auch ein paar Ölfarben«, sagte Rosa. »Für die Höhepunkte.«
»Ein paar Ölfarben«, sagte Eve zerknirscht und hätte noch stundenlang so weitergeplappert, wenn die Polizistin sie nicht taktvoll zum Schweigen gebracht hätte.
Indigo, der Rosas Bericht über den Nachmittag gehört hatte, betrachtete ihr Bild.
»Hast du Tom gemocht, Rosa?«, fragte er.
»Ja«, sagte Rosa.