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ndigo erwachte mit dem sonderbaren Gefühl, von Unheil bedroht zu sein. Nach einer Minute oder zwei hatte er erkannt, was es war. Montag. Seine Schuluniform war über einen Stuhl gebreitet, ein schwarzes und schattenhaft graues Gebilde. Mit dem heller werdenden Licht hinter den zugezogenen Schlafzimmervorhängen wurden die Umrisse deutlicher. Schritte und Stimmen waren zu hören. Türen und Dielen knarrten und krachten. Jemand rief: »Das Bad ist frei.« Der Morgen war jetzt eine unumstößliche Tatsache. Indigos Zimmertür wurde aufgerissen, Rosa kam herein und sagte: »Der Tag ist da. Bist du wach?«

»Ja.«

»Ich habe dir etwas mitgebracht. Dads Handy. Ich habe es gefunden und für dich aufgehoben. Damit du anrufen kannst, wenn du Hilfe brauchst. Wenn du wieder mal fertig gemacht wirst.«

»Ich habe es dir schon x-mal gesagt, ich bin nicht fertig gemacht worden!«

»Sie haben deinen Kopf in eine Kloschüssel gesteckt«, sagte Rosa, die morgens nie besonders taktvoll war. »Also. Für mich ist das ›fertig gemacht‹. Kann ich mir etwas zum Anziehen leihen?«

»Bediene dich«, sagte Indigo und sah zu, wie Rosa den Kleiderhaufen am Fuß seines Bettes durchstöberte. Mit einem alten schwarzen Sweatshirt tauchte sie wieder auf. Es hatte ausgefranste Ärmelsäume und ging ihr bis an die Knie.

»Perfekt«, sagte sie, verschwand und ließ die Tür offen. Von allen Seiten kamen die Geräusche der Familie, die sich auf den Tag vorbereitete. Maggy telefonierte mit einer Freundin von der Uni.

»Nein, nein, natürlich kein Gorilla. Du hast dich verhört. Eine Chinchilla... Schrei nicht so!... Eine winzig kleine Chinchilla... Du wirst kaum merken, dass sie da ist...« Eve und Rosa:

»Liebling, das ist nicht die Schuluniform.«

»Ich weiß ich weiß ich weiß ich weiß.«

Hämmern an der Hintertür, gefolgt von Stimmen. Safran im Gespräch mit Sarah. Sarah, die aus der Küche schrie: »Wo bist du, Indy?«

»Ich komme«, rief Indigo.

Als er herunterkam, waren alle beschäftigt. Maggy und Rosa schrieben etwas am Tisch. Eve machte Haferbrei und tunkte zugleich eine Hand voll Farbpinsel in eine Dose mit Terpentin. Safran diktierte Rosa Antworten zu den Hausaufgaben. Alle stolperten über Sarahs Rollstuhl, der nicht richtig zusammengeklappt war, und über ein großes feuchtes Ölgemälde, das Porträt eines Spaniels, das nicht trocknen wollte.

»Es muss trocknen«, sagte Eve, »weil ich es heute abliefern muss. Es ist ein Geburtstagsgeschenk. Hallo, Indigo Liebling. Schau dir dieses Bild an und sag mir, was du davon hältst.«

»Der Hund sieht wirklich gut aus.«

»Quicklebendig?« Eve kratzte im Haferbreitopf herum. »Eher nachdenklich als quicklebendig.«

»Auch gut, solange er nicht tot aussieht.«

»Warum?«

»Weil er tot ist. Ich hatte nur Fotos und ein Stückchen Fell, das sie ihm hinterher abgeschnitten haben. Sie hatten ihn sehr gern. Sie haben mich im Voraus bezahlt. Herrje, noch nie habe ich erlebt, dass Farbe so langsam trocknet.«

»Leg es unter den Grill«, schlug Sarah vor. »Wie Toast.«

»Nein, nein, Sarah Liebling«, sagte Eve. »Da wäre es viel zu heiß. Mach dir keine Sorgen. Ich lasse mir etwas einfallen.«

»Föhn?«

»Kurzschluss«, sagte Eve und fing an, den Haferbrei in Müslischüsseln zu schütten. »Egal. Ich werde den Backofen anmachen und die Tür öffnen, wenn alle in der Schule sind. Und das Bild schwenken... Hier ist dein Frühstück, Rosa!«

»Das sieht aus wie heißer Zement«, stellte Rosa fest. »Ich muss einen Tag im Leben der alten Ägypter schildern. Was soll ich denn schreiben?«

»Sind das deine Aufgaben für die Ferien?«, fragte Sarah. »Mach sie nicht, Rosa! Eve schreibt deiner Lehrerin, dass es skandalös ist, Achtjährigen Aufgaben für die Ferien zu geben! Das machst du, nicht wahr, Eve?«

»Ich weiß gar nicht, wie man skandalös schreibt, Sarah Liebling.«

»Heißer Zement«, sagte Rosa betrübt und stocherte in ihrem Haferbrei herum.

»Schreib Folgendes«, befahl Safran: »›Die alten Ägypter sind alle tot. Ihre Tage sind sehr still.‹ Haferbrei soll aussehen wie heißer Zement. Iss ihn auf.«

»Voller Vitamine«, sagte Eve hoffnungsvoll, kratzte einen weiteren klebrigen Brocken aus dem Topf und schüttete ihn in eine Schüssel. »Frühstück, Indy! Schneide dir eine Banane hinein! Maggy, gib ihm eine Banane! Ist Post gekommen, weiß das jemand?«

»Daddy schreibt nie«, sagte Rosa. »Niemals.«

»Lies die nächste Frage!«, befahl Safran.

»›Was würdest du zu Tutanchamun sagen, wenn du auf der Straße mit ihm zusammenstoßen würdest?‹«

»›Entschuldigung!‹«, sagte Sarah sofort. »Schreib das auf.«

»Wir müssen in ganzen Sätzen antworten.«

»Entschuldigung, aber das war Ihre Schuld! Sie sind plötzlich zur Seite gegangen!‹ Kann ich auch eine Banane haben, bitte, Maggy?«

Maggy, die versuchte, einen sehr schwierigen Brief zu schreiben, gab Sarah eine Banane und las vor:

»›Liebster, liebster Peter...‹«

»Ist es vernünftig, ihn ›Liebster‹ zu nennen?«, unterbrach Safran sie.

»Es würde ihm auffallen, wenn ich es nicht tun würde.«

»Aber es soll ihm doch auffallen. Wie kannst du ihn in die Wüste schicken, ohne dass es ihm auffällt?«

»Ich schicke ihn nicht in die Wüste. Das stimmt so nicht. Hört zu. ›Liebster, liebster Peter...‹ (So kann ich ihn nicht nennen.) ›Es tut mir wirklich Leid, dass ich dich nicht wiedersehen konnte. Ich war...‹ Was soll ich jetzt schreiben?«

»Ich war jeden Abend mit Michael aus?«, schlug Safran vor.

»Nein!«, sagte Maggy. »Überhaupt stimmt das nicht. Nicht jeden Abend. Iss deinen Haferbrei, Indigo, er tut dir fantastisch gut. Jemand soll mir bei diesem Brief helfen!«

»Schreib die Wahrheit«, riet Sarah. »Das ist letzten Endes am freundlichsten. Schreib: ›Lieber Peter, ich habe dich nur ausprobiert, weil ich gerade viele Freunde ausprobiere. So viele wie möglich, weil ich sicher sein will, dass Michael der Richtige für mich ist. Ich hoffe, du hörst bald auf, mich zu lieben. Herzlich deine Magenta Casson‹. Michael ist der Richtige für dich! Das musst du endlich akzeptieren, Maggy!«

»Michael ist perfekt«, sagte Eve und niemand widersprach.

Niemand von ihnen konnte sich ein Leben ohne Michael vorstellen. Er gehörte jetzt zur Familie. Maggy hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt (und es ihm gleich gesagt). »Liebling!«, hatte sie gerufen (hingerissen von seinem Ohrring und seinem Pferdeschwanz und seinen schwarzen Augen) und Michael hatte geantwortet: »Nenn mich nicht Liebling, ich bin ein Fahrlehrer!« Während er heldenhaft versuchte, Maggy das Autofahren beizubringen, hatte Michael über ein Jahr lang diese Worte wiederholt, aber jedes Mal mit weniger Überzeugung. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie füreinander bestimmt waren.

»Wie Romeo und Julia«, sagte Maggy glücklich.

»Oh Mann, ich hoffe nicht!«, sagte Michael.

Obwohl (oder vielleicht weil) sie ganz zufrieden mit dem fantastischen Michael war, konnte Maggy der Versuchung nicht widerstehen, von Zeit zu Zeit loszustürmen und unterlegene Vergleichspersonen zu suchen.

Peter war eine sehr unterlegene Vergleichsperson gewesen.

»Kann ich wirklich schreiben, was Sarah gesagt hat?«, fragte Maggy. »Es ist schrecklich verführerisch... Nein, das geht nicht. Lasst mich weitermachen...«

»Ich habe es eigentlich nie geschafft, Peter zu mögen«, sagte Eve. »Ich habe es versucht. Aber ich habe es ihm trotzdem übel genommen, dass er einen Zehnpfundschein aus dem Marmeladeglas mit dem Haushaltsgeld genommen hat, als er dachte, ich sehe es nicht. Schließlich hätte er nur zu fragen brauchen...«

»Er hatte so eine Art, sich diese dünnen Haarsträhnen hinter die Ohren zu schieben«, sagte Sarah. »Beide Seiten zugleich und hinterher fuhr er sich noch mal leicht darüber.«

»Er war dabei, als ich meinen Wackelzahn herausgezogen habe«, sagte Rosa. »Und er hat gefragt, ob ich ihn für die Zahnfee unters Kopfkissen lege.«

»Und er war ein Potätschler«, sagte Safran.

»Stimmt«, sagte Indigo.

Maggy schaute Indigo überrascht an, griff nach einem anderen Blatt Papier und fing an, sehr schnell zu schreiben. »Was machst du mit ausgefallenen Zähnen?«, fragte Sarah Rosa.

»Ich zermahle sie zu Hexenpulver«, sagte Rosa ruhig. Sarah prustete vor Lachen. »Eil dich, Indy, sonst kriegen wir den Bus nicht mehr.«

»Ich laufe«, sagte Indigo.

»Oh, Indy!«

»Ich mag den Regen«, sagte Indigo stur, »und überhaupt habe ich gesagt, dass ich mit Rosa gehe.«

Safran und Sarah gaben auf. Sie mussten den Bus nehmen wegen Sarahs Rollstuhl und auch wegen der großen Taschen mit freiwilligen Hausaufgaben, die sie jeden Abend wieder nach Hause schleppten. Also verabschiedeten sie sich von Eve, umarmten Maggy, die nach der Schule schon abgereist sein würde, und gaben Indigo den Pausenimbiss, den Sarahs Mutter für ihn gemacht hatte.

»Sie hat gesagt, du sollst alles aufessen«, erklärte ihm Sarah. »Es enthält Vitamine und Proteine und anhaltend sättigende Kohlehydrate. Hat sie gesagt. Stopf es ihm in die Tasche, Saffy!«

»Ich mache das!«, sagte Rosa, aber es war zu spät. Safran hatte in Indigos Schultasche gegriffen und das Handy entdeckt. Sie hielt es hoch und hob hinter dem Rücken von Eve und Indigo fragend die Augenbrauen.

»Damit er telefonieren kann, wenn er Hilfe braucht«, erklärte Rosa heftig flüsternd. »Wenn er fertig gemacht wird wie schon einmal.«

»Was soll das heißen, fertig gemacht? Komm mit raus und erklär das!«

»Sie waren schrecklich zu ihm«, sagte Rosa, während sie Sarah die Treppe hinunterhalf und Saffy mit den Schultaschen folgte. »Indigo sagt, es ist nicht wahr, aber ich weiß, dass es stimmt. Ein Junge in meiner Schule hat es mir erzählt. Sie haben ihn in einer Kloschüssel hinuntergespült.«

»Diese Bande in seiner Klasse?«

Rosa nickte. Sarah umarmte sie und murmelte: »Schon gut. Ich weiß, was du meinst. Ich und Saffy bringen die Kerle um.«

»Es nützt nichts, sie umzubringen, wenn sie schon gemein waren«, erklärte Rosa.

»Wir bringen sie vorher um!«, zischte Sarah wütend. »Komm schon, Saffy, oder wir versäumen den Bus!«

 

***

 

Bis Indigo und Rosa fertig waren, hatte der Regen nachgelassen, jetzt hing eine dünne graue Feuchtigkeit in der Luft. Gerade als sie gehen wollten, brachte Eve Indigo einen Ersatzimbiss für den Fall, dass der erste nicht befriedigend sein sollte. Kalte Würstchen, eine Orange und ein Päckchen Schokoladenostereier.

»Du hast sie so gern gehabt, als du klein warst.« Eve legte das unordentliche Päckchen auf die schmucke Lunchbox von Sarahs Mutter. »Soli ich dich nach der Schule treffen, Indigo? Als käme ich gerade vorbei?«

»Nein! Wirklich, Mum, bitte nicht!«

»Es könnte ganz zufällig aussehen.«

Hilfe suchend schaute Indigo Maggy an.

»Es wäre schrecklich«, sagte Maggy entschieden zu Eve. »Das darfst du nicht machen. Versprich, dass du es nicht machst.«

»Na schön.« Eve seufzte. »Ihr geht jetzt besser, ihr beide. Rosa Liebling, hast du deine neue Brille vergessen? Ich dachte, ich hätte sie vorhin im Schrank gesehen. Hinter der Marmelade.«

»Wirklich?«

»Ja. Hier ist sie! Wolltest du sie nicht mitnehmen?«

»ICH HABE ES GEWUSST«, sagte Rosa mit lauter, ärgerlicher Stimme, »ICH HABE GEWUSST, DASS JEMAND VERSUCHEN WÜRDE, MICH ZU ZWINGEN, DIESE SCHRECKLICHE BRILLE MIT IN DIE SCHULE ZU NEHMEN!«

Eve legte sie hastig wieder hinter die Marmelade.

»Da wird sie sicher sein«, sagte Rosa mit normaler Stimme. »Komm jetzt, Indigo!«

Rosas Schule lag nur ein paar hundert Meter von der anderen entfernt, in die Indigo und Safran und Sarah gingen. Eve und Maggy schauten den beiden nach, wie sie zusammen lostrotteten. Die achtjährige Rosa sah sehr klein aus neben Indigo in seiner neuen schlaksigen Länge.

»Sie gibt auf ihn Acht«, sagte Maggy und im selben Moment sahen sie, wie Rosa beschützend die Hand ausstreckte und Indigo um eine Pfütze herumsteuerte.

 

Maggy ging als Letzte. Sie werde abgeholt, erklärte sie ihrer Mutter, von jemandem, der Derek-vom-Camp genannt wurde.

»Kommt Derek jetzt nach Peter?« Eve wollte auf dem Laufenden bleiben.

»Nach Peter, aber zugleich mit Michael. Er wird dir gefallen. Eigentlich... Egal! Hier ist er schon!«

Eine große schlammbespritzte Gestalt auf einem beeindruckenden (aber ebenfalls schlammbespritzten) Motorrad war draußen eingetroffen. Sehr bald war Derek im Haus, wo er Eve höflich mit Handschlag begrüßte. Er war, stellte sie besorgt fest, wesentlich älter als Maggy. Aber er war sehr charmant. Während Maggy ihre Sachen holte, leerte er unerschrocken eine Tasse mit kochend heißem Kaffee in einem Zug, entlockte Eve ihre Unterschrift für eine Bittschrift gegen die Aktivitäten von Leuten, von denen sie noch nie gehört hatte, bewunderte das feuchte Spanielporträt und schrieb ihr den Namen eines Sprays auf, mit dem die Farbe des Gemäldes so fixiert würde, dass sie es verpacken könnte. Schließlich zog er eine Zeitung aus der Tasche, fragte nach den Sternzeichen der Familienmitglieder und las dann wunderbare Horoskope für jedes von ihnen vor.

Eve umarmte ihn und Maggy glücklich zum Abschied und ging, um den Vormittag mit Malen zu verbringen. Das Häuschen hinten im Garten war Eves liebster Platz auf der ganzen Welt. Dort war es wunderbar ruhig.