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n der Schule schlug Indigo der Lärm entgegen wie ein Sturm. Er hatte das Getrappel und Gebrüll auf den Gängen völlig vergessen. Er hatte den Schulgeruch vergessen. Er hatte beinah die tägliche Routine vergessen. Er musste sich daran erinnern, seinen Spind zu suchen.

Weil die Schule überfüllt war, gab es Spinde überall, wo noch Platz war, in Gängen, hinten in Klassenzimmern, in den Ecken von Eingängen und Waschräumen. Die Spinde der Jungen aus Indigos Klasse befanden sich in einem Raum, der zugleich Umkleide- und Waschraum war und in der Mitte durch eine Reihe von Kleiderhaken geteilt wurde. Es war kalt und feucht darin und roch deprimierend nach einem Desinfektionsmittel mit Tannennadelduft, nach alten Kleidern und Toiletten.

»Keine ganz zufrieden stellende Einrichtung«, sagte der Direktor, der diesen Teil der Schule immer ausließ, wenn er Besucher durch das Gebäude führte.

In diesem nicht zufrieden stellenden Raum begann und endete für Indigo jeder Schultag. Außerdem war hier der Treffpunkt der Bande. Die Mitglieder der Bande waren seit der ersten Woche in dieser neuen Schule seine Feinde.

Damals hatte er sie gestört, als sie gerade einen Mitschüler an seinem verdrehten Sweatshirtkragen an einem der hohen eisernen Kleiderhaken aufhängten.

Es war lediglich eine kleine harmlose Folter gewesen, reine Routine. Indigo war geraten worden, cool zu bleiben. Trotzdem hatte er versucht dazwischenzugehen.

Diese Einmischung nützte niemandem. Um Indigo zu bestrafen, ließ die Bande zunächst einmal den Jungen (der später selbst begeistertes Bandenmitglied und ausgezeichneter Folterer wurde) viel länger als sonst in seiner unbequemen Lage. Das war für ihn sehr unbehaglich. Als er endlich abgeschnitten (und sein Sweatshirt ruiniert) war, ging er allen auf die Nerven, weil er unkontrollierbar würgte und sich auf dem Boden wand.

»Geht und holt Hilfe!«, hatte Indigo an diesem Punkt gerufen (und sich immer noch nicht um seine Angelegenheiten gekümmert), und ein oder zwei Weicheier unter den Zuschauern hatten gewaltsam daran gehindert werden müssen, seinen Befehl auszuführen. Also waren auch sie verletzt worden.

Dann hatte sich der aufgehängte Junge so weit erholt, dass er sich aufsetzen und zuhören konnte, und der rothaarige Bandenführer erklärte ihm, dass seine erlittene Unannehmlichkeit die direkte Folge von Indigos Einmischung sei. Der Junge war nicht dumm. Sofort stimmte er zu und sagte, das sei offensichtlich wahr. Indigo begriff nicht, dass der Bandenführer und der aufgehängte Junge jetzt auf derselben Seite waren. Und obwohl ihm während der ganzen Prozedur des Aufhängens, Windens und Würgens beide Arme mit grässlicher Geschicklichkeit auf den Rücken gedreht worden waren, hatte er noch immer nicht gelernt, wann er still zu sein hatte.

»Du solltest es jemandem sagen«, riet er töricht dem aufgehängten Jungen. »Du solltest jemandem sagen, was sie dir angetan haben! Ich gehe mit dir, wenn du willst...«

»Was ist hier los?«, fragte ein Lehrer, der in diesem Moment gerade rechtzeitig hereinplatzte.

»Nichts«, sagte der aufgehängte Junge von seinem Platz am Boden aus, er lächelte und blinzelte wie eine Katze in der Sonne. »Überhaupt nichts«, und er wurde durch eine freundliche Handreichung des rothaarigen Bandenführers belohnt, der ihm auf die Füße half.

»Sie haben dich fast erwürgt!«, schrie Indigo, der losgelassen worden war, als der Lehrer hereinkam.

Der Aufgehängte hatte Indigo angeschaut, als hätte man seinen Fürsprecher vom schmutzigen Fliesenboden aufgekehrt, hatte die Augen zur Decke verdreht, sich an die Schulter des rothaarigen Bandenführers gelehnt und gegrinst.

»Entspann dich, Indigo«, sagte er.

»Häng dich nicht in alles rein«, fügte jemand hinzu, die anderen brüllten vor Lachen, der Lehrer sagte gereizt: »Hinaus mit euch allen!«, und der Zwischenfall war vorbei.

Er war vorbei, aber nicht vergessen. Indigo hatte die Bande kritisiert, sich in ihre Angelegenheit gemischt, fast einen Aufstand ausgelöst bei ihren Anhängern (diesen Weicheiern, die um Hilfe laufen wollten) und schließlich versucht, sie bei einem Lehrer zu verpetzen. Von da an war er in der einsamen (und oft schmerzhaften) Position eines Bandenfeindes.

Selbst nachdem er ein Quartal lang gefehlt hatte, war Indigo immer noch Bandenfeind. Er wusste es, sowie er zur Tür hereinkam. Die vergangene Nacht im Garten schien plötzlich lange, lange her zu sein.

 

Durch die Bande wurde Indigos Klasse in zwei getrennte Gruppen geteilt.

Die eine bestand aus fast allen Mädchen und ein paar unscheinbaren Jungen. Sie durften, halb übersehen, halb beschützt, ihre eigenen Wege gehen. Sie zahlten für ihren Schutz mit Stillschweigen. Das bedeutete, dass sie nicht beachteten, was um sie herum vorging. Dafür wurden sie nicht beachtet.

Der Rest der Klasse waren die Bandenmitglieder.

Ein ziemlich großer Teil von ihnen war nicht schlimmer als ein lauter Pöbelhaufen.

Wenn der Pöbel nicht herumalberte, um zu überleben, beteiligte er sich am allgemeinen Knuffen und Stoßen der Opfer. Wenn die Jungen in dieser Gruppe nicht selbst zu Opfern werden wollten — eine entsetzliche und sehr reale Möglichkeit — , mussten sie Disziplin zeigen.

Sie wurden von einem inneren Kreis von Bandenangehörigen geführt, die Entscheidungen trafen, Risiken auf sich nahmen, Herzen brachen und vorgaben, nur zu tun, wozu die Opfer sie zwangen. Alle waren handverlesen vom rothaarigen Bandenführer. Seltsamerweise hatten sie viel Macht, taten aber wenig. Kein hartes Schlagen, kein Aufhängen, kein Zu-Boden-Werfen. Kein ekliges Toilettentauchen. Vielleicht hin und wieder ein bisschen milder Spott.

»He, Indy! Wir haben schon gedacht, du bist tot!«

»Du bist nicht gestorben, was, Indy?«

»Geht’s dir jetzt gut, Indigo? Geht’s dir gut?«

Es war der Bandenführer, der das sagte, der rothaarige Junge mit dem überraschend weißen, knochigen Gesicht. Er fragte es noch einmal und lächelte drohend. »Geht’s dir gut, Casson?«

Hinter dem Fenster wurde der Himmel heller. Die Wolken teilten sich. Ein blauer Fleck kam zum Vorschein. Indigo dachte an Rosa, die sich bei Flugzeugen etwas wünschte. »Ja, danke«, sagte er.

»Froh, wieder hier zu sein?« Der Rothaarige kam einen Schritt näher.

Indigo gab keine Antwort.

»Froh, wieder hier zu sein? Casson?«

Indigo schaute zur Tür und schätzte die Entfernung ab. »Wir haben gefragt«, sagte der rothaarige Bandenführer mit einem schnellen Blick über die Schulter, um sicher zu sein, dass seine Truppen an Ort und Stelle waren, »ob du froh bist, wieder hier zu sein, Casson?«

Indigo überlegte, dass Rosa es nicht aushalten könnte, wenn er nach Hause käme und sichtlich verprügelt, getreten, aufgehängt oder in die Kloschüssel getaucht worden wäre. Bei dem Gedanken wurde ihm übel.

»Casson? Bist. Du. Froh...«

Indigo hob den Kopf und sagte: »Nein.«

»Du bist nicht froh, wieder hier zu sein?«, wiederholte der Rothaarige und der Pöbel um ihn herum fing an, vor Entzücken zu summen.

Plötzlich hatte Indigo genug. Er musste aus diesem Raum hinaus und es war ihm ziemlich gleichgültig, wie er das machte. Er fing an, sich durch die Menge zu drängen. Sie schloss sich vor ihm, ohne dass sie sich zu bewegen schien.

»Was glaubst du, wohin du gehst, Casson?«, fragte der rothaarige Bandenführer.

»Raus.«

»Nein, das machst du nicht.«

»Doch.« Indigo setzte stur seinen Weg zur Tür fort.

Der Pöbel begann wütend zu brummen. Etwas lief nicht so, wie es sollte. Seinen Gegnern zum Trotz kam Indigo nach und nach voran. Sie schauten ratlos ihren Führer an und das Brummen wurde lauter. Es war so laut, dass es draußen im Gang Sarah und Safran auffiel, die nicht zufällig vorbeikamen.

Sarah und Safran stürzten in den Raum, den bisher kein Mädchen betreten hatte, und mähten den Pöbel nieder wie dürres Unkraut, Safran mit Knien und Fäusten, Sarah mit ihrem Rollstuhl.

Indigo schrie: »Saffy! Sarah! Geht raus!«

Sarah lachte und Safran sagte: »Sei still, Indigo!«

Sie steuerten direkt auf den weißgesichtigen, rothaarigen Bandenführer zu und drängten ihn rückwärts zu einem Porzellanbecken, er knallte mit dem Kopf dagegen. Indigo machte die Augen zu und hoffte, das alles sei ein schrecklicher Traum. Er machte sie auf und da wurde der Bandenführer gerade von einer rasenden Safran wieder hochgezerrt, während Sarah die Tür versperrte.

»Dass du es nicht wagst«, Safran glühte wie ein zorniger Komet, in den Fäusten drehte sie Büschel der karottenroten Haare, »je wieder meinen Bruder anzurühren... Verstanden...« (Safran packte fester zu und zog mit einem Ruck an seinem Kopf.)

»Weder du...«

(Ruck)

»...noch jemand aus deiner Bande...«

(Ruck)

»Denn wenn ihr das tut, dann machen ich und Sarah...«

(Ruck, Ruck)

»euch fertig

Safran zog ein letztes Mal und ließ den Bandenführer fallen. »Safran«, sagte Indigo in die entsetzte Stille hinein, »Saffy. Das war nicht nötig.«

Safran ignorierte ihn. Sie sagte zu dem Pöbel, der sich vor ihr teilte: »Geht mir aus dem Weg.« Die Jungen starrten sie an, während sie sich die Hände wusch. Sie sahen, wie rote Haare das Abflussloch des Waschbeckens füllten. Safran trocknete sich die Hände ab, schaute sich um und merkte sich die Gesichter. Sarah sagte: »Ich kenne alle ihre Namen.«

Es war ganz still im Raum. Safran und Sarah waren die auffälligsten Mädchen in der Schule. Jeder kannte Safran mit den langen Beinen und den langen goldenen Haaren und den sagenhaften Prüfungsnoten. Jeder kannte Sarah und die Geschichte, wie sie aus der Privatschule, die ihre Mutter leitete, ausgeschlossen worden war, weil sie absichtlich jeden Tag gegen eine Regel verstoßen hatte, bis die Schlacht schließlich zu Ende war.

»Bis später, Indy«, sagte Sarah und flitzte hinaus, Safran stolzierte hinterher. Niemand sah Indigo an und niemand schaute ins knochige Gesicht des Bandenführers, der sich die restlichen Haare glatt strich. Niemand sagte etwas, aber auf der anderen Seite des Raums lachte jemand.

Es war ein unverschämtes, lautes, spöttisches Lachen. Der Bandenführer hörte auf, sich die Haare glatt zu streichen, reckte sich und starrte. Indigo ebenfalls. Ein dunkelhaariger, braunäugiger Junge, den er nie zuvor gesehen hatte, lehnte an der Wand und beobachtete sie. Er war kleiner als alle anderen im Raum, aber er sah nicht aus, als wüsste er das. Er betrachtete Indigo amüsiert und verächtlich mit hochgezogenen Brauen und sagte: »Was es nicht alles gibt.« Dem Bandenführer mit den restlichen roten Haaren erklärte er: »Diesmal hast du verloren, Glatzi.« Der rothaarige Bandenführer wusste, dass er seine Autorität sofort wiederherstellen musste, sonst wäre sie für immer verloren. Er musterte kurz den Pöbel, stellte fest, dass seine Truppen noch zu ihm hielten, schaute dann kühl hinüber zu dem Jungen, der ihn Glatzi genannt hatte, und sagte: »Der.«

Der innere Kreis nickte.

Indigo fühlte sich plötzlich erschöpft. Er erinnerte sich, wie sie ihn genauso angeschaut und genauso genickt hatten. Doch der Pöbel entspannte sich in unverhoffter froher Erleichterung. Für diese Jungen war die Ordnung wiederhergestellt. Die Bande war immer noch an der Macht. Ihr Führer war immer noch ihr Führer. Und sie waren in Sicherheit. Sie waren immer noch der zufriedene Pöbel. Es gab ein neues Opfer.

Der Anführer verließ den Raum. Der Pöbel folgte lärmend und achtete darauf, dabei das neue Opfer anzurempeln. Innerhalb von Sekunden lag seine Büchertasche auf dem Boden und ihr Inhalt wurde lässig auf die feuchtesten Fliesen gekickt.

Zuerst schien der Neue verblüfft darüber, dass sie sich so plötzlich gegen ihn wandten. Dann fing er an zu schreien und sich auf einen Kicker nach dem anderen zu stürzen, aber im Handumdrehen war der Raum leer.

Nur Indigo blieb zurück.

Indigo hob die verstreuten Bücher auf, wischte sie ab, so gut es ging, und glättete die zerknitterten Seiten. Er sagte: »Du hättest sie nicht wütend machen sollen.«

»Ich hätte sie nicht wütend machen sollen!«, wiederholte der Junge. »Deine verrückte Schwester und ihre Freundin haben sie wütend gemacht! Weil sie dir helfen wollten!«

»Ich weiß. Aber die Bande kann es nicht leiden, wenn man sie auslacht.«

»Hier stinkt es!«

»Ja«, stimmte Indigo zu. »Manchmal.«

»Manchmal! Hier stinkt es ständig

»Hier sind alle deine Bücher. Ich glaube, sie sind okay.« Der Junge verdrehte die Augen, als könnte er das nicht glauben, als wollte er sagen: Sie sind nicht okay.

Auf dem Gang draußen läutete es. Indigo sagte: »Wir sollten gehen.«

Der Junge zog einen Gummiball aus der Tasche und presste ihn fest. Dann warf er ihn auf den gefliesten Boden. Er ließ den Ball aufspringen und fing ihn, immer wieder, sein Gesicht war verkrampft vor Zorn.

Indigo sagte wieder: »Wir sollten gehen.«

Der Junge warf den Ball, fing ihn und schleuderte ihn Indigo an den Kopf. Er traf den Wangenknochen und es schmerzte wie verbrannt. Im nächsten Moment hatte der Junge den Ball gefangen und wieder geworfen. Diesmal traf er Indigo am Ohr.

»Bleib doch nicht einfach da stehen!«, rief der fremde Junge. »Du stehst einfach da! Warum stehst du einfach da

»Ich weiß nicht«, sagte Indigo.

Der Ball flog wieder auf ihn zu. Diesmal war Indigo vorbereitet und fing ihn. Er hielt ihn einen Augenblick, dann warf er ihn behutsam dem Besitzer zu.

»Ich kämpfe nicht mit dir«, sagte er. »Komm schon. Wir sind spät dran.«