Konrad flog mit Höchstgeschwindigkeit. Er durfte keine Zeit verlieren. Sein Plan musste noch in dieser Nacht durchgeführt werden. Wenn die Sonne aufging, war es zu spät … Hoffentlich waren die anderen zu Hause!
Er flog über dunkle Wälder. Ab und zu begegnete er einer Eule. Der Weg zurück war weiter, als er gedacht hatte. Konrad spürte, wie seine Kräfte nachließen. Dass er lange nichts mehr gegessen hatte, machte sich jetzt bemerkbar.
Ich muss durchhalten, dachte er. Wir müssen Opa Rudi aus Haus Sonnenschein herausholen, unbedingt!
Wenn Opa länger im Seniorenheim blieb, konnte so viel passieren. Die größte Gefahr war das Tageslicht … Aber vielleicht bekam Opa Rudi auch Hunger – und wenn seine vampirische Natur durchbrach, waren die anderen Heimbewohner gefährdet. Was für einen Aufruhr würde es geben, wenn Opa Rudi plötzlich Blut saugte! Nicht auszudenken!
Die Barthenfels konnten keinen Ärger gebrauchen. Seit Jahren lebten sie friedlich in ihrer Gruft, in einer sehr schönen Gegend – und niemand von ihnen hatte Lust umzuziehen. Doch wenn die Menschen erst einmal den Verdacht hatten, dass Vampire in ihrer Nähe lebten, konnte es eine unerbittliche Hetzjagd geben. Das musste Konrad um jeden Preis verhindern!
Konrad war so in Gedanken, dass er fast mit einem Waldkauz zusammengestoßen wäre. Nur haarscharf flogen die beiden aneinander vorbei. Der Waldkauz erschrak so, dass er ins Trudeln kam und beinahe abgestürzt wäre. Doch zum Glück fing er sich wieder und flog weiter.
Auch Konrad hatte einen ordentlichen Schrecken bekommen. Er nahm sich vor, sich besser zu konzentrieren. Unten, zur Linken, glitzerte schon das Wasser des Vierwaldstätter Sees. Bis zur Gruft war es nicht mehr weit.
Konrad nahm seine letzten Kräfte zusammen. Er flog tiefer, Äste streiften ihn. Dann landete er auf einem Waldweg. Nur noch ein paar Meter. Da war schon der Eingang zur Gruft. Konrad schob sich hinein.
»Hallo, ich bin’s, Konrad!«, rief er. »Ist jemand da? Wir haben Opa Rudi gefunden, aber wir brauchen eure Hilfe. Hallo!«
Thea kam aus einer Ecke, in der sie gekocht hatte. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
»Wir haben uns schon Sorgen um euch gemacht, weil ihr so lange wegbleibt«, begrüßte sie ihren Sohn. »Bist du allein?«
»Ja, die anderen halten die Stellung vor Haus Sonnenschein«, sagte Konrad. Er berichtete kurz, was geschehen war.
Thea war sehr glücklich, dass Opa Rudi gefunden worden war. »Aber warum kann er sich an nichts erinnern?«, fragte sie.
»Das weiß ich leider auch nicht«, sagte Konrad. »Er hat mich jedenfalls nicht erkannt. Aber im Keller wusste er noch den Text und die Melodie vom Transsylvanischen Teufels-Tango.«
»Dann besteht vielleicht Hoffnung, dass er sein Gedächtnis wiederfindet«, sagte Thea und seufzte.
»Wo sind denn die anderen?«, fragte Konrad nervös. »Wo sind Papa, Viktor und Onkel Udo? Wir brauchen starke Vampire!«
»Hm … Viktor ist auf Achse, er wollte sich mit Freunden treffen«, antwortete Thea. »Papa sucht im Wald nach Opa Rudi, und Onkel Udo begleitet ihn. In der Gruft sind nur Oma Friedel und Tante Anna. Sie bohnern gerade die Särge, damit sie schön glänzen.«
»Aha, deswegen riecht es so komisch.« Konrad schnupperte.
Thea nickte. »Ja, das ist Bohnerwachs.«
Konrad überlegte. Sie durften keine Zeit verlieren. »Dann müsst ihr uns eben helfen«, sagte er. »Mama, sag Oma Friedel und Tante Anna Bescheid. Sie müssen mitkommen. Zu sechst können wir es schaffen. Ach ja, und hast du noch ein paar Flaschen Bluta? Ella und Roswitha sind nämlich am Verhungern, und mir würden ein paar Schlucke auch guttun.«
»Sicher habe ich noch einen Vorrat da.« Thea lächelte. »Eine ganze Kiste. Du kannst dich bedienen. Ich sage inzwischen Oma und Tante Anna Bescheid.«
Während Konrad eine Flasche Bluta aufschraubte, trank und mehrere Flaschen in seinem Rucksack verstaute, wuselten Oma Friedel und Tante Anna durch die Gruft. Der Geruch nach Bohnerwachs wurde noch stärker, und Konrad verzog das Gesicht.
»Stimmt es, dass du Opa Rudi gefunden und mit ihm gesprochen hast?«, wollte Oma Friedel wissen. »Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?«
»Körperlich fehlt ihm nichts, aber im Kopf ist er ein bisschen durcheinander«, antwortete Konrad. »Mama, Oma, Tante – zu langen Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Wir müssen Opa Rudi befreien, solange es dunkel ist. Kommt ihr mit?«
»Ich müsste mich erst umziehen«, meinte Thea. »Ich kann doch nicht mit meiner Schürze …«
»Natürlich kannst du, Mama«, widersprach Konrad. »Es ist jetzt ganz und gar unwichtig, was du anhast.«
»Wir hätten uns auch gern noch ein bisschen zurechtgemacht«, meinte Oma Friedel, und Tante Anna nickte.
»Das geht jetzt nicht«, sagte Konrad. »Selbst wenn ihr meilenweit nach Bohnerwachs duftet. Wir müssen los, und zwar sofort.«
»Diese Jugend!« Tante Anna schüttelte den Kopf. »Immer so schrecklich in Eile …«
Konrad war sehr froh, als die Frauen ihm ins Freie folgen. Tante Anna hatte beim Fliegen ein paar Startschwierigkeiten, aber schließlich befanden sich alle Vampire in der Luft. Konrad flog voraus und zeigte den anderen den Weg. Er hörte, wie ihre Kleider im Wind raschelten. Einmal schrie Thea entsetzt auf. »O Schreck, jetzt ist mir meine Schürze davongeflogen.«
»Das macht nichts«, beruhigte Konrad seine Mutter. »Du hast ja noch viele andere. Hauptsache, mein Plan gelingt!«
Es kam Konrad vor wie eine Ewigkeit, bis der Park unter ihnen auftauchte. Er landete leichtfüßig neben Ella, Roswitha und Wolfi. Ella war sofort wach.
»Endlich bist du wieder da«, seufzte sie.
»Ja, und ich habe auch Bluta für dich und Roswitha mitgebracht.« Konrad öffnete seinen Rucksack und holte zwei Flaschen heraus. Ella trank gierig, während Konrad seine kleine Schwester weckte.
Jetzt landeten auch die anderen, allerdings nicht so elegant wie Konrad. Thea plumpste auf den Rasen. Tante Anna verfing sich im Gebüsch, und Oma Friedel trat versehentlich auf Wolfis Schwanz. Der kleine Werwolf fuhr hoch und jaulte.
»Es tut mir leid, Wolfi.« Oma Friedel rieb tröstend seinen Kopf. »Das war keine Absicht. Wirklich nicht!«
»Erzählst du jetzt endlich, was du vorhast?«, fragte Ella. Sie hatte die ganze Flasche Bluta ausgetrunken und fühlte sich bärenstark.
»Wir schleichen uns ins Haus«, antwortete Konrad. »In den dritten Stock, wo Opa Rudi sein Zimmer hat. Er schläft jetzt sicher. Dann öffnen wir das Fenster und entführen ihn samt Bett. Deswegen habe ich ja auch Hilfe geholt – weil wir das nicht allein geschafft hätten.«
Ellas Augen begannen zu glitzern. »Ein toller Plan!«
»Ja, ich finde ihn auch gut«, sagte Roswitha. Sie wischte sich den Mund ab, der ganz rot war vor Bluta. Auch sie hatte fast eine ganze Flasche ausgetrunken. »Jetzt habe ich wenigstens kein Bauchweh mehr.«
Die Vampire waren bereit. Wolfi wollte unbedingt auch mit, also klemmte Ella ihn unter den Arm. Gestärkt, wie sie war, konnte sie ihn mühelos tragen. Wieder flog Konrad voraus. Als sie vor ein paar Stunden das Haus verlassen hatten, hatte Konrad die Haustür nur angelehnt. Doch leider war sie inzwischen ins Schloss gefallen, und der Zugang war versperrt.
»Mist!«, knurrte Konrad. »Dann müssen wir eben wieder durchs Küchenfester. Für uns ist das kein Problem, aber hoffentlich passen Mama und Tante Anna da überhaupt durch.«
Ella musste kichern.
Thea blieb tatsächlich im Fensterrahmen stecken, und Konrad und Ella mussten kräftig von innen ziehen, um sie zu befreien. Schließlich plumpste sie in die Küche und riss dabei eine Pfanne herunter. Es schepperte laut. Die Vampire erschraken.
»O weh«, murmelte Ella. »Wenn jetzt die Pflegerinnen kommen!«
Sie warteten und lauschten angespannt. Aber zum Glück blieb alles ruhig. Nach ein paar Minuten verließen die Vampire die Küche. Auf Zehenspitzen schlichen sie ins Treppenhaus und von dort in den dritten Stock. Den Aufzug zu nehmen, trauten sie sich nicht, weil dieser Geräusche machte.
Konrad fand ohne Schwierigkeiten Opa Rudis Zimmer wieder. Vorsichtig öffnete er die Tür. Die beiden Männer schienen zu schlafen. Die Vampire betraten den Raum und versammelten sich um Opa Rudis Bett. Oma Friedel hätte Opa Rudi am liebsten gleich geherzt und geküsst, aber Konrad schüttelte den Kopf.
»Nicht«, wisperte er. »Es ist besser, wenn er schläft! Sonst schreit er noch das ganze Haus zusammen, wenn er merkt, was wir mit ihm vorhaben.«
Ella hatte inzwischen das Fenster untersucht. Es ließ sich ganz leicht aufschieben. Die kühle Nachtluft wehte herein.
»Mama und Tante Anna«, sagte Konrad. »Ihr packt das Bett am Fußende. Roswitha kann euch helfen. – Ella, Oma und ich fassen das Bett am Kopfende an. Ich zähle bis drei – und dann heben wir das Bett an.«
»Stopp!«, zischte Ella. »Und was ist mit Wolfi? Den hast du vergessen. Niemand von uns hat für ihn eine Hand frei …«
Wolfi löste das Problem selbst, indem er aufs Bett sprang. Opa Rudi drehte sich im Schlaf um und grunzte ein bisschen.
»Also los«, kommandierte Konrad. »Eins, zwei – und drei!«
Die Vampire hoben das Bett an und begannen gleichzeitig zu schweben. Es funktionierte besser, als Ella gedacht hatte. Vorsichtig dirigierten sie das Bett in die richtige Richtung, so dass es durchs Fenster passte. Dann waren sie draußen … Leider blieb Tante Anna am Fensterrahmen hängen und verlor einen Schuh. Der plumpste nach innen ins Zimmer. Von dem Geräusch wurde Opa Rudis Bettnachbar wach und knipste das Licht an. Er sah das offene Fenster, die fremden Personen und das schwebende Bett – und begann lauthals zu schreien.
»HILFE! HILFE! ÜBERFALL! GESPENSTER!«
»Schnell!«, rief Konrad. »Wir müssen von hier verschwinden!«
Die Vampire flogen mit dem Bett durch die Luft. Opa Rudi begann sich zu regen. Im Haus Sonnenschein gingen die Lichter an, und Ella sah, wie sich eine Pflegerin aus dem Fenster lehnte.
»Rasch! Um die Hausecke, bevor sie uns entdecken!«
Die Vampire flogen einen scharfen Bogen. Die Bettdecke machte sich selbständig und segelte zu Boden. Aber die Pflegerin hatte das fliegende Bett zum Glück nicht gesehen.
»Uff, ganz schön schwer!«, stöhnte Thea.
»Ihr müsst durchhalten«, rief Konrad. »Los, in Richtung Wald!«
Opa Rudi öffnete die Augen und blickte sich verwirrt um. Als er sich aufsetzte, sprang Wolfi auf seinen Schoß.
»Nanu, was bist du denn für einer?«, fragte Opa Rudi verwundert. Er blickte hoch in den Sternenhimmel und starrte Thea, Roswitha und Tante Anna an. Dann drehte er sich um und sah Konrad, Ella und Oma Friedel.
»Du schon wieder«, sagte er streng, als er Konrad erkannte. »Kannst du mir vielleicht verraten, was das Ganze soll?«
»Nur ein kleiner Ausflug«, antwortete Konrad. »Kein Grund zur Beunruhigung.«
Opa Rudi bekam einen gehetzten Gesichtsausdruck. In seinen Augen stand Panik. »Wer seid ihr? Und warum fliegt das Bett durch die Luft?«
Ella hatte plötzlich eine Idee. »Ein Traum, ein Traum«, säuselte sie. »Das ist alles nur ein Traum. Im Traum ist alles möglich …«
Opa Rudi schien sich tatsächlich etwas zu beruhigen. Die Vampire flogen mit dem Bett über den Wald. Konrad dachte mit Grausen daran, wie weit es noch bis nach Hause war. Hoffentlich reichten ihre Kräfte aus!