Haus Sonnenschein

Wolfi meckerte ein bisschen.

»Ich will nicht fliegen, da wird mir schlecht!«, jammerte er. Er war schon einmal mit Viktor geflogen, der ihn unter den Arm geklemmt hatte. Das hatte Wolfi nicht besonders gut gefallen. »Werwölfe fliegen nicht, das machen nur Vampire!«

»Willst du denn lieber zur Gruft zurücklaufen und dort auf uns warten?«, fragte Konrad.

Aber das wollte Wolfi auch nicht. Jedenfalls nicht allein. »Wenn Ella mitkommt«, schlug er vor.

»Aber Wolfi, ich habe doch Konrad versprochen, dass ich ihm helfe, Opa Rudi zu finden«, sagte Ella und streichelte dem kleinen Werwolf beruhigend über den Kopf. »Anfangs hatte ich auch Angst vor dem Fliegen. Aber je öfter man fliegt, desto schöner wird es, Ehrenwort.«

Wolfi sah sie mit großen Augen an. »Bestimmt?«

»Bestimmt.« Ella nickte. »Und guck mal, wie wunder-wunderschön es hier ist. Es muss herrlich sein, über die Berge zu fliegen.«

Wolfi war noch immer nicht ganz überzeugt.

»Wolfi, bist du feige?«, fragte Roswitha lachend und kitzelte ihn zwischen den Ohren.

Aber feige wollte Wolfi nicht sein. »Na gut, dann komme ich eben mit«, knurrte er.

Sie verließen den kleinen Ort und suchten sich einen Pfad, der in den Wald führte. Im Schutz der Bäume blieben sie stehen und bereiteten sich auf den Flug vor. Konrad nahm Wolfi auf den Rücken, und Ella wollte auf Roswitha aufpassen, damit die Kleine nicht von einer plötzlichen Windbö davongeweht wurde.

Ella war vor einem Flug immer ein bisschen aufgeregt. So auch jetzt. Sie fasste Roswitha an der Hand und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Man musste sich vorstellen, leicht und immer leichter zu werden, bis man schließlich zu schweben anfing …

Ella spürte, wie es funktionierte. Gleich würde sie vom Boden abheben. Ihre Füße schwebten schon einige Zentimeter in der Luft. Aber warum stieg sie nicht weiter auf? Was hielt sie zurück?

Ella machte die Augen wieder auf und stellte fest, dass Roswitha noch fest auf dem Boden stand.

»Was ist los mit dir?«, fragte sie. Misstrauisch hob sie die Augenbrauen. »Kannst du überhaupt schon fliegen?«

»Ja, aber da war es immer dunkel.« Roswitha bibberte am ganzen Leib. »Fliegen bei Tag ist ganz anders, glaube ich.«

»Ach was, das ist genauso … höchstens viel schöner.« Ella warf einen Blick nach oben. Konrad schwebte schon mit Wolfi zwischen den Baumwipfeln und winkte ihr zu.

»Wir müssen wirklich los«, drängte Ella.

»Dann mach ich beim Fliegen eben die Augen zu«, murmelte Roswitha.

»Ja, gute Idee, ich passe schon auf uns beide auf«, antwortete Ella.

Wenig später waren sie beide in der Luft. Ella genoss es zu fliegen. Wie schön war es, wenn man auf eine bunte Landschaft heruntergucken konnte! Das grüne Gras, die leuchtenden Blumen und das Dunkelgrün der Tannen … Und wenn man den Kopf in den Nacken legte, sah man über sich einen hellblauen Himmel! Wunderbar!

Ella stieß kleine Freudenjuchzer aus. Sie flog zu Konrad. Wolfi klebte auf seinem Rücken, klammerte sich fest und sah unglücklich über Konrads Schulter.

»Ach Wolfi«, rief Ella. »Ist Fliegen nicht herrlich?«

»Mag sein«, brummte Wolfi. »Aber wieder festen Boden unter den Füßen zu haben ist noch viel herrlicher …«

Sie mussten ungefähr eine halbe Stunde fliegen, bis sie den Hügel erreichten, auf dem das »Haus Sonnenschein« stand. Es war ein großes Gebäude, umgeben von einem Park, in dem viele alte Leute spazieren gingen. Manche saßen auch im Rollstuhl. Ella, Konrad, Roswitha und Wolfi landeten unauffällig hinter einer Baumgruppe.

»Das Haus ist ja riesig«, sagte Konrad. »Und in irgendeinem Zimmer ist Opa Rudi …«

»Am besten gehen wir rein und tun so, als wollten wir jemanden besuchen«, schlug Ella vor. Sie warf einen traurigen Blick auf Wolfi. »Es tut mir wirklich leid, Wolfi, aber du musst leider draußen bleiben. Kannst du hier auf uns warten? Rühr dich bitte nicht von der Stelle, ja?«

Wolfi knurrte ein »Ja« und legte dem Kopf auf die Pfoten. »Ich muss mich nach dem anstrengenden Flug sowieso erst einmal ausruhen.«

Die Vampire ließen den kleinen Werwolf im Schatten der Bäume zurück, gingen durch den Park und suchten den Haupteingang.

An der Pforte saß eine blonde Dame.

»Guten Tag«, sagte Konrad höflich. »Wir wollten unseren Großonkel besuchen.«

»Wie heißt er denn?«, fragte die Dame.

»Meier«, antwortete Konrad.

Die Dame sah im Computer nach. »Meier gibt es bei uns zwei. Toni oder Hubert?«

»Toni«, antwortete Konrad, ohne zu zögern.

»Ganz oben, vierter Stock, Zimmer 48«, sagte die Dame.

Konrad bedankte sich. Die Vampire betraten die Eingangshalle. Ella sah sich neugierig um. Es gab mehrere Sofas und Sessel, auf denen ältere Leute saßen, aber Opa Rudi war nicht dabei.

Konrad deutete auf eine metallene Tür. »Der Fahrstuhl. Damit können wir in den vierten Stock fahren.« Er drückte auf einen leuchtenden Knopf, und der Fahrstuhl öffnete sich. »Wir fangen am besten mit der Suche von ganz oben an.«

Es war Ella nicht ganz geheuer, als sie Konrad und Roswitha in die kleine Kabine folgte. Sie war noch nie mit einem Fahrstuhl gefahren … Konrad drückte wieder auf einen Knopf. Die Tür ging zu. Gleich darauf setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Ella machte sich ganz steif und hielt sich an Konrad fest. Dieser lachte.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Ella. Da kann normalerweise nichts passieren!«

Im Nu waren sie im vierten Stock und betraten einen hellen, breiten Flur. Ein Mann in einem gestreiften Bademantel schlurfte an ihnen vorüber. Konrad trat ihm in den Weg.

»Entschuldigung«, sagte er. »Können Sie uns sagen, wo der Mann ist, den man gefunden hat? Der nicht weiß, wer er ist?«

Der Mann im Bademantel starrte Konrad misstrauisch an. »Seid ihr von der Zeitung?«

»Nein«, sagte Konrad. »Aber wir glauben, dass der Mann unser Opa ist, den wir vermissen.«

Der alte Mann brummte. »Da seid ihr hier falsch. Der Neue liegt im dritten Stock, im letzten Zimmer rechts. Normalerweise darf keiner rein.« Dann schlurfte er weiter und verschwand in einem Aufenthaltsraum.

Die Vampire gingen in den Fahrstuhl zurück und fuhren einen Stock tiefer. Als sie aus der Kabine traten, kam ihnen eine Altenpflegerin entgegen. Sie trug auf dem Arm einen Stapel zusammengefaltete Bettwäsche. Konrad grüßte höflich. Dann warteten die Vampire, bis sich die Fahrstuhltür hinter der Pflegerin geschlossen hatte.

»So, die Luft ist rein«, flüsterte Konrad.

Sie liefen zum Ende des Flurs. Ella hielt unwillkürlich die Luft an, als Konrad die letzte Tür öffnete. Leise schlüpften die Vampire ins Zimmer.

Im Raum standen zwei Betten. In einem davon lag ein alter Mann und schlief. Im anderen Bett saß Opa Rudi und sah mit leerem Blick zum Fenster hinaus.

Die kleinen Vampire umringten sein Bett.

»Hallo, Opa Rudi!« Konrad beugte sich zu seinem Großvater und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Wir sind gekommen, um dich nach Hause zu bringen.«

Opa Rudi starrte Konrad an. »Nach Hause?«, knurrte er. »Ich bin hier zu Hause. Wer bist du denn?«

»Aber Opa, erkennst du mich denn wirklich nicht?«, fragte Konrad erschrocken. »Ich bin Konrad, dein Enkel! Und Roswitha ist auch dabei, schau!« Er schob seine Schwester nach vorne.

»Und wer bist du?« Opa Rudi schaute Ella an.

»Ich bin Ella Vampirella und zu Besuch hier«, antwortete Ella. Sie zitterte innerlich. O weh, er konnte sich offenbar wirklich an nichts erinnern! Das war schlimm!

»Bist du verletzt, Opa?«, fragte Konrad. »Kannst du aufstehen? Warte, wir helfen dir.« Er wollte ihn am Arm fassen und hochziehen, aber Opa Rudi schlug nach ihm.

»Was soll das?«, fauchte er. »Lass mich in Ruhe, du frecher Bengel! Wenn du mich noch einmal anfasst, dann schreie ich!«

Konrad zog schnell seinen Arm zurück. Er sah Ella hilflos an.

Diese beugte sich nach vorn.

»Opa Rudi«, sagte sie leise. »Weißt du wirklich nicht mehr, wer du bist? Du bist ein Vampir und wohnst in einer Gruft. Seit vielen Jahren bist du mit Oma Friedel verheiratet. Zuletzt hattet ihr einen Streit, deswegen bist du weggegangen …«

»Papperlapapp«, kam es von Opa Rudi. »So ein Blödsinn! Ich – ein Vampir! Dass ich nicht lache! Ihr denkt wohl, ihr könnt einen alten Mann wie mich auf den Arm nehmen! Und jetzt schert euch raus, ich will schlafen! Oder muss ich erst die Pflegerin rufen, bevor ihr geht?«

»Nein, nein, das ist nicht nötig«, sagte Konrad.

Niedergeschlagen schlichen die drei Vampire zur Tür.

»Mach’s gut, Opa Rudi!«, flüsterte Roswitha, dann waren sie draußen.

Sie waren so traurig, dass sie kein Wort sprachen, während sie mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren. Erst in der Eingangshalle fragte Ella:

»Was jetzt?«

»Keine Ahnung«, sagte Konrad. »Vielleicht sollten wir nach Hause fliegen und den anderen erzählen, dass wir Opa Rudi gefunden haben.«

Sie verließen das Gebäude und durchquerten den Park. Wolfi lief ihnen schwanzwedelnd entgegen. Ella umarmte ihn.

»Ach Wolfi«, murmelte sie. »Es ist alles so traurig … Wir haben Opa Rudi gefunden, aber er erkennt uns nicht.«

Sie erzählte ihm, was passiert war und dass sie jetzt wieder zurück zur Gruft fliegen wollten.

»Nicht schon wieder fliegen!«, rief Wolfi. »Das mache ich nicht mit. Da wird mir schlecht!«

Ella und Konrad wechselten einen Blick.

»Dann bleiben wir doch besser hier«, meinte Konrad. »Wir wissen nicht, wann Opa Rudi die Sonnenmilch benutzt hat und wann ihre schützende Wirkung nachlässt. Je länger er hier in diesem Heim bleibt, desto größer ist die Gefahr, dass das Tageslicht ihm Schaden zufügt.«

»Hm«, seufzte Ella. Sie setzte sich ins Gras und umschlang ihre Knie. Jetzt war guter Rat teuer. Was sollten sie nur tun?

»Ich habe Hunger«, beklagte sich Roswitha. »Und außerdem bin ich müde.« Sie rollte sich auf dem Gras zusammen wie eine Katze.

Auch Ella spürte, wie ihr Magen knurrte. Konrad sah in seinem Rucksack nach, aber in der einzigen Flasche Bluta war nur noch ein winziger Rest Flüssigkeit. Den bekam Roswitha.

»Wir hätten mehr Proviant mitnehmen sollen.« Konrad seufzte. »Aber wir wussten ja nicht, dass wir so lange unterwegs sind.«

Allmählich dämmerte es. Es wurde kühl. Die drei kleinen Vampire und der Werwolf rückten enger zusammen, um einander zu wärmen. Roswitha jammerte wegen Bauchschmerzen, schlief aber dann ein, den Kopf an Ellas Schulter gelehnt. Ella betrachtete den Himmel und sah zu, wie immer mehr Sterne auftauchten. Doch schließlich fielen ihr auch die Augen zu, und sie schlummerte ein.

 

Mitten in der Nacht wurde sie von Konrad geweckt. Sie war sofort hellwach. Konrad legte den Finger an die Lippen.

»Wir müssen leise sein«, flüsterte er. »Ich bin vorhin noch mal zum Gebäude geflogen und habe in Opa Rudis Zimmer geschaut. Er war nicht in seinem Bett, obwohl die Fenster schon alle dunkel waren. Und jetzt ist auf einmal Licht im Keller! Wir sollten nachsehen, was da los ist.«

Das brauchte er Ella nicht zweimal zu sagen. Sie stand auf und warf einen Blick auf Wolfi und Roswitha, die eng aneinandergekuschelt im Gras lagen.

»Wir lassen sie am besten schlafen«, meinte Konrad. »Wir sind ja gleich wieder da.«

Er nahm Ella an die Hand, und sie flogen durch den Park zu dem großen Haus. Konrad hatte recht. Die Fenster waren jetzt alle dunkel, aber in einem oder zwei Kellerräumen brannte Licht. Jetzt vernahm Ella auch leise Musik. Vampire hatten gute Ohren!

»Die Musik kommt aus dem Keller«, wisperte sie. »Glaubst du, dort wird ein Fest gefeiert?«

»Das werden wir gleich wissen«, antwortete Konrad.

Vorsichtig landeten die beiden Vampire auf dem Rasen und schlichen sich an die erleuchteten Fenster. Zum Glück waren die Vorhänge nicht zugezogen, und so konnten sie durch die Scheibe in den Raum schauen.

»Oh, so viele Leute!«, staunte Ella. »Was machen die alle hier?«

Der Raum war voller alter Männer und Frauen. Sie trugen Nachthemden und Schlafanzüge und schienen bester Laune zu sein. Ella entdeckte unter ihnen auch Opa Rudi. Er stand an der Wand und hielt eine Gitarre in den Händen. Dazu sang er:

»Lasst es heute richtig krachen,

heute wollen wir nur lachen!

Unsern Kummer und die Sorgen

schieben wir auf übermorgen!

Schwingt das Tanzbein, liebe Leute!

Angesagt sind Spaß und Freude!«

Einige Männer und Frauen klatschten den Takt mit. Dann kam der Refrain, den alle mitgrölten:

»Wir sind alt, doch nicht senil,

feiern können wir noch viel!

Wir sind kein Futter für die Made.

Zum Schlafen ist die Nacht zu schade!«

Eine weißhaarige Frau hängte sich ein Akkordeon um und begleitete Opa Rudi. Die Stimmung wurde immer ausgelassener und fröhlicher. Die ersten Paare begannen sich im Kreis zu drehen.

»Wow!«, murmelte Ella. »Da ist ganz schön was los!«

»Ja, sie scheinen mächtig Spaß zu haben«, meinte Konrad. »Opa Rudi kommt mir viel frischer vor als heute Nachmittag. Na ja, kein Wunder, wir Vampire sind ja auch Geschöpfe der Nacht! Wollen wir uns reinschleichen? Vielleicht kann er sich jetzt erinnern …«

Ella nickte. Sie umkreiste mit Konrad das Gebäude, in der Hoffnung, eine unverschlossene Tür zu finden. Doch zu ihrer Enttäuschung war alles verriegelt. Da entdeckte Ella im ersten Stock ein Fenster, das einen Spalt offen stand.

»Dort oben!«, wisperte sie. »Vielleicht können wir durchs Fenster rein.«

Sie flogen hoch. Das Fenstersims war schmal, und Ella suchte krampfhaft nach einer Stelle, wo sie sich festhalten konnte. Konrad stieß das Fenster ganz auf und zog sie ins Innere. Sie waren in der Küche gelandet. Im Raum roch es noch schwach nach Essen, und Ella spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Sie musste an Theas gute Suppe denken … Oh, sie hatte solchen Hunger!

Konrad ging zur Tür, und Ella folgte ihm. Sie schlichen einen dunklen Gang entlang. Die Finsternis machte den Vampiren nichts aus, sie konnten im Dunkeln ebenso gut sehen wie Katzen.

Konrad eilte voraus. Plötzlich blieb er so abrupt stehen, dass Ella in ihn hineinlief. Er drehte sich um und legte den Finger an die Lippen.

Jetzt sah Ella, dass etwas weiter vorne eine Tür offen stand. Ein schmaler Lichtstrahl fiel heraus. Man hörte leise Stimmen.

»Hoffentlich ist es heute Nacht ein bisschen ruhiger, und es wird nicht dauernd nach uns Pflegerinnen geklingelt.«

»Ja, Amelie, das hoffe ich auch.«

Auf Zehenspitzen schlichen die Vampire an der offenen Tür vorbei. Sie erreichten das Treppenhaus und stiegen hinab in den Keller. Dort brauchten sie nur der Musik zu folgen …

Zunächst merkte niemand, dass die Tür aufging. Die Senioren hatten einen Kreis gebildet und schwenkten die Beine. Jeder hatte sich bei seinen Nachbarn untergehakt. Opa Rudi stand in der Mitte und gab mit seiner Gitarre den Rhythmus vor. Schließlich endete das Lied, die Senioren ließen einander los und klatschten Beifall.

»Ach, das war schön!«, murmelte eine alte Frau.

»Ja!«, rief ein älterer Herr. »Endlich haben wir mal ein bisschen Spaß. Sonst werden wir schon um sieben Uhr ins Bett geschickt, dabei bin ich da noch gar nicht müde. Kein Wunder, dass ich in der Nacht dann schlecht schlafen kann.«

»Ich bin nachts sowieso munterer als tagsüber«, antwortete Opa Rudi und lachte. »Wozu also im Bett liegen? Hier unten geht die Post ab! Also, Leute, noch mal! Wie wär’s? Wollt ihr Tango tanzen?« Er schlug rhythmisch auf seine Gitarre ein.

Ella und Konrad schoben sich vorsichtig in den Raum und kämpften sich bis zu Opa Rudi durch. Konrad zupfte ihn am Arm.

Opa Rudi sah ihn an. »Du schon wieder!«, fauchte er. »Was willst du von mir?«

»Ich will, dass du mit uns nach Hause kommst«, sagte Konrad leise. »Wir vermissen dich schon schrecklich. Außerdem könnte das Sonnenlicht für dich ganz schön gefährlich werden, und wir wollen nicht, dass dir etwas zustößt.«

Opa Rudi lachte laut. »Warum soll das Sonnenlicht für mich gefährlich sein? Hör mal zu, Kleiner, das musst du mir schon genauer erklären. Ich bin zwar alt, aber deswegen lasse ich mich nicht für dumm verkaufen! Ist das klar?«

»Du … du hast eine sehr empfindliche Haut, und die Sonne könnte dich verbrennen«, stotterte Konrad. »Da-das liegt bei uns in der Familie. Wir … wir alle müssen tagsüber vorsichtig sein …«

»Ich habe keine Angst«, sagte Opa Rudi und schob Konrad zur Seite. »Und jetzt geh wieder schlafen, mein Junge! In deinem Alter braucht man noch seinen Schönheitsschlaf!« Er klatschte in die Hände. »Leute, auf zur neuen Runde! Oder ist einer von euch müde? Also … jetzt kommt der Transsylvanische Teufels-Tango!« Er zupfte an den Saiten.

»Hohe Berge, kalte Höhen, Wolfsgeheul, gefror’ne Seen …«

Konrad war inzwischen zu Ella zurückgekehrt, die neben der Tür stand. »Was soll ich nur machen?«, flüsterte er. »Er erinnert sich einfach nicht! Wie sollen wir ihn hier nur herausbringen?«

»Wenn wir stärker wären, dann könnten wir ihn einfach schnappen und mit ihm davonfliegen«, wisperte Ella. »Aber ich fürchte, er wird sich wehren, und dann können wir ihn nicht halten, und es geschieht vielleicht ein Unglück …«

»Hm.« Konrad runzelte die Stirn. »Deine Idee ist gar nicht so schlecht. Der Plan könnte vielleicht funktionieren, wenn Opa Rudi schläft …«

»Aber wenn wir ihn aus dem Bett zerren und mit ihm fliegen, wird er garantiert wach«, wandte Ella ein.

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, denn in diesem Augenblick stürmten zwei Altenpflegerinnen und ein Pfleger in den Raum.

»Was ist denn hier los?«, rief die ältere Pflegerin empört. »Warum seid ihr nicht in euren Betten? Wer hat euch erlaubt, hier unten zu feiern?« Sie sah sich gehetzt um. »Was ist das hier – eine Party?«

Der Pfleger ging zielstrebig zu Opa Rudi und nahm ihm die Gitarre ab. »Du hast das Ganze angezettelt, habe ich recht? Seit du hier bist, bringst du Unruhe ins Haus! Nicht nur, dass du ständig am Essen rumnörgelst und man dir nichts recht machen kann! Und jetzt das hier …! Es ist schon nach Mitternacht – und viel zu spät für wilde Tänze! Willst du, dass sich die Alten bei diesem Herumgehüpfe die morschen Knochen brechen?«

Er packte ihn fest am Arm. »Du kommst jetzt mit, zurück in dein Zimmer! Das wird ein Nachspiel haben, darauf kannst du dich verlassen.« Und er führte Opa Rudi aus dem Raum wie ein Polizist einen Gefangenen.

Ella und Konrad hatten sich rasch in eine Ecke gedrückt und versteckten sich hinter einer alten Kommode. Von dort aus beobachteten sie, wie die Feier aufgelöst wurde. Die beiden Pflegerinnen sorgten dafür, dass die alten Männer und Frauen in ihre Zimmer zurückkehrten. Manche murrten, aber darauf wurde keine Rücksicht genommen.

Ella und Konrad hörten, wie eine Pflegerin zur anderen sagte: »Der Neue mischt das ganze Haus auf! Er ist ein Nörgler und Störenfried. Wir müssen dafür sorgen, dass er so bald wie möglich von hier wegkommt!«

»Ja, ich werde morgen alles in die Wege leiten«, antwortete die andere.

Dann schloss sich die Tür, und Ella und Konrad waren allein im Raum. Sie krochen aus ihrem Versteck.

»Puh, gerade noch mal gutgegangen!«, murmelte Konrad.

»Ja, wir haben Glück gehabt«, meinte Ella. Sie sah ihren Freund an. »Was machen wir, wenn dein Opa tatsächlich von hier fortgebracht wird?«

»Wir müssen ihnen zuvorkommen«, sagte Konrad entschlossen. »Ich habe auch schon eine Idee. Dazu müssen wir aber erst mal zurück in die Gruft. Wir brauchen die Hilfe der anderen, denn zu zweit oder zu dritt schaffen wir es nicht.«

Ella wurde neugierig. »Was hast du für einen Plan?«

Konrad grinste. »Erinnerst du dich an das Zimmer, in dem Opa Rudi liegt? Es hat ein sehr großes Fenster … und das ist auch gut so …« Mehr verriet er noch nicht.

Sie verließen den Raum, stiegen leise die Treppe hinauf und schlüpften durch die Haustür nach draußen. Dann flogen sie zu Roswitha und Wolfi zurück, die noch immer schliefen. Konrad weckte behutsam seine kleine Schwester.

Roswitha sah ihn verschlafen an. »Was’n los?«, nuschelte sie.

»Wir müssen zurück zur Gruft, die anderen holen«, sagte Konrad. »Willst du mitkommen oder hier im Park auf uns warten? Wir beeilen uns und fliegen so schnell wie möglich, versprochen.«

Roswitha rieb sich die Augen. »Ich bleibe hier«, entschied sie dann. »Aber nur, wenn Ella auch hierbleibt.«

Konrad überlegte. »In Ordnung, dann fliege ich eben allein zurück, das geht auch.«

Ella nickte.

»Lasst euch nicht erwischen«, schärfte Konrad ihnen ein. »Wir kommen auf alle Fälle noch während der Nacht.«

Und schon erhob er sich in die Lüfte, winkte ihnen zu und flog über den Park.

Roswitha wimmerte ein bisschen und drückte sich an Ella.

»Kommt er wirklich bald zurück?«, fragte sie.

»Klar«, sagte Ella. Sie hoffte auch, dass es nicht zu lange dauern würde. Ihr Magen knurrte inzwischen so sehr, dass es fast nicht mehr zum Aushalten war. Ob Konrad daran denken würde, Bluta mitzubringen?

Sie nahm Roswitha in den Arm, kuschelte sich an den schlafenden Wolfi und schloss die Augen. Vielleicht konnte sie ja auch ein Nickerchen machen, dann verging die Zeit schneller …