Vampire haben es manchmal schwer

»Ella, schläfst du? Kannst du mich hören?« Das war Wolfis Stimme.

Ella hatte gerade ein bisschen vor sich hin gedöst. Jetzt wurde sie wach. Ihr Nacken tat weh, die Schultern waren ganz verkrampft. Sie versuchte, eine bessere Stellung zu finden.

»Ella! Sag doch was, bitte!«, drängte Wolfi.

»Was ist denn los?«, fragte Ella.

»Mir ist so langweilig!«, beschwerte sich Wolfi. »Ich kann nicht schlafen – und von dem blöden Ratatam-ratatam-ratatam kriege ich Kopfweh. Kann ich zu dir in die Kiste kommen?«

»Das ist gefährlich«, warnte Ella. »Wenn dich jemand sieht, dann schmeißen sie uns aus dem Zug, und wir kommen niemals in der Schweiz an.«

»Ach was, es ist doch niemand da«, meinte Wolfi. »Ich passe schon auf.«

Ella verdrehte die Augen. Wenn sich Wolfi etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte man ihn nur schwer davon abbringen. »Na gut, dann komm rüber! Aber sei wirklich vorsichtig!«

Sie hörte, wie neben ihr ein Kistendeckel knarrte. Dann wurde ihr eigener Deckel angehoben. Wolfi sprang herein, direkt auf sie, und der Deckel knallte wieder zu.

»Uff, bist du verrückt?«, stöhnte Ella. Sie versuchte, sich von seinem Gewicht zu befreien. So ein Werwolf war ganz schön schwer, selbst wenn es noch ein kleiner war …

»Tut mir leid«, murmelte Wolfi und rollte von ihr herunter. Jetzt konnte Ella wenigstens wieder atmen. Trotzdem war es zu zweit in der Kiste sehr eng.

Wolfi sah es anders. »Gemütlich«, sagte er zufrieden. »Eigentlich könnten wir doch immer zusammen in deiner Kiste schlafen, oder?«

»O nein, lieber nicht«, sagte Ella sofort. »Du schnarchst, und da kann ich bestimmt kein Auge zutun.«

»Ich schnarche gar nicht!«, erklärte Wolfi beleidigt.

»Tust du wohl«, rief Ella. »Ich habe es schließlich schon oft genug gehört.«

»Wenn du so böse zu mir bist, dann geh ich weg und springe vom Zug«, drohte Wolfi. »Dann kannst du mal sehen, wie du ohne mich zurechtkommst. Es ist niemand mehr da, der dich beschützt, wenn du durch den Wald gehst und Angst hast. Und ich kann dir auch nicht helfen, wenn du jemanden suchst und jemanden brauchst, der eine Spur verfolgt. Dann kannst du selber mit deiner Vampirnase schnuppern! Mal sehen, wie weit du damit kommst!«

»Ach Wolfi, wir wollen uns doch nicht streiten«, lenkte Ella ein. »Ich will ja, dass du bei mir bleibst! Du bist doch mein allerbester Freund! Ja, das bist du – auch wenn ich nicht dauernd mit dir in einer Kiste schlafen will.«

Wolfi war wieder versöhnt. Er grunzte zufrieden.

»Aber jetzt darf ich ein bisschen bleiben?«, bettelte er. »Mir war so langweilig. Du könntest mir eine Geschichte erzählen! Du kennst so viele Geschichten!«

Ella überlegte. Wolfi hatte recht. Mit Geschichtenerzählen würde die Zeit schneller vergehen.

»Was willst du denn hören? Die Geschichte vom Wasservampir vielleicht?«

»Au ja!«, sagte Wolfi begeistert. »Die kenne ich noch gar nicht.«

Er legte den Kopf in Ellas Schoß. Sie kraulte ihn zwischen den Ohren und begann zu erzählen:

»In einem tiefen, tiefen Wald, dort, wo es am dunkelsten war, lebte einmal ein Wasservampir. Er hauste in einem Tümpel, schlief im Morast, und die Frösche, die auch im Tümpel wohnten, sangen ihn in den Schlaf.«

»Waren es viele Frösche?«, fragte Wolfi.

»Ungefähr hundertzwei«, antwortete Ella. »Du kannst dir vorstellen, dass die einen ganz schönen Lärm machten. Aber genau das gefiel dem Wasservampir. Wenn weniger Frösche quakten – manche waren ja mal heiser und mussten ein paar Tage aussetzen –, dann wälzte er sich unruhig im Morast hin und her und klagte: ›Diese Stille! Ich kann gar nicht schlafen, wenn es so ruhig ist!‹«

Wolfi gab einen zufriedenen Grunzlaut von sich. »Und weiter?«

»Eines Tages passierte etwas Schreckliches«, fuhr Ella fort. »Der Tümpel fing nämlich an auszutrocknen. Es hatte schon wochenlang nicht mehr geregnet. Das Wasser wurde von Tag zu Tag weniger. Erst ging es dem Wasservampir noch bis zum Hals, dann nur noch bis zum Bauchnabel und schließlich bis zu den Knien. Der Tümpel war zu einer kleinen Pfütze geschrumpft.«

»O weh«, jammerte Wolfi. »Und was hat der Wasservampir dann gemacht?«

Ella erzählte: »›Das kann nicht mehr so weitergehen!‹, sagte der Wasservampir. ›Morgen habe ich am Ende gar kein Wasser mehr! Oh, wenn es doch endlich mal wieder regnen würde!‹«

»Hat es denn dann geregnet?«, fragte Wolfi.

»Nein, leider nicht«, antwortete Ella. »Also packte der Wasservampir eines Nachts seine Sachen und zog los, um ein neues Zuhause zu finden. Er wanderte und wanderte – viele Nächte lang. Tagsüber versteckte er sich an einem kühlen dunklen Ort und kam erst hervor, wenn es dämmerte. Seine Haut war schon ganz hart und spröde, und wenn er sich nicht mit Schneckenschleim eingerieben hätte, dann wäre er wohl ganz ausgetrocknet.«

»Schneckenschleim, igitt!«, knurrte Wolfi.

»Endlich kam der Wasservampir zu einem See«, sagte Ella. »Der war viel größer als sein Tümpel, und es gab dort auch Enten und Schwäne. Aber das störte den Wasservampir nicht. ›Was für ein wundervoller Ort!‹, rief er aus. ›Hier werde ich bleiben!‹ Er suchte sich ein gemütliches Plätzchen unter einer Weide, deren Zweige tief ins Wasser hingen. Das war ein gutes Versteck. Frösche gab es auch jede Menge. Der Wasservampir fand, dass er noch nie so liebliches Gequake gehört hatte wie hier am See. Das Beste aber war, dass er sich nachts ab und zu auf einen Schwan setzen durfte, der bei Mondschein über den See schwamm. Das fand der Wasservampir herrlich, und er war so glücklich wie noch nie in seinem Leben.«

Ella streichelte Wolfi. Der Werwolf zuckte leicht mit den Ohren. Sein Atem ging regelmäßig. Ella lauschte.

»Oh, Wolfi ist tatsächlich eingeschlafen!« Sie freute sich und schloss selbst die Augen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, auf einem Schwan zu sitzen. Natürlich musste es ein stehendes Gewässer sein, wie ein Teich oder ein See. Vor Bächen oder Flüssen hatten Vampire normalerweise Angst … Sie hatten große Probleme, wenn sie ans andere Ufer mussten.

»Ob es am Vierwaldstätter See Schwäne gibt?«, murmelte Ella schlaftrunken. »Vielleicht kann ich dann mit Konrad …« Sie schaffte es nicht mehr, den Satz zu Ende zu sprechen. Der Schlaf war stärker. Ellas Kopf fiel zur Seite, und sie begann zu träumen.

 

Der Zug ratterte durch die Nacht, Kilometer um Kilometer. Ella und Wolfi bekamen nichts davon mit, weil sie fest schliefen. Sie hatten sich eng aneinandergekuschelt. Ella träumte von weißen Schwänen, während Wolfi im Traum lauter Fröschen nachjagte, die kleine Reisetaschen dabeihatten …

Mitternacht ging vorüber. Die Turmuhren in den kleinen Orten, an denen der Zug vorüberfuhr, schlugen einmal, zweimal, dann dreimal. Um vier Uhr wurde Wolfi kurz wach, weil er niesen musste. Einer der Frösche war im Traum in seine Nase gekrochen …

»Ella? Bist du da?«, fragte Wolfi. Aber dann roch er sie und spürte sie. Zufrieden legte er wieder seinen Kopf in ihren Schoß und schlief weiter.

Der Zug fuhr und fuhr. Draußen wurde es allmählich hell. Die Vögel in den Bäumen regten sich und begannen zu singen. Die Sonne stieg am Horizont empor. Der Zug erreichte die Schweizer Grenze und fuhr weiter nach Süden, wo die Berge immer höher wurden.

Ella und Wolfi waren inzwischen wach.

»Ich habe Hunger«, klagte Wolfi. »Wie sieht es mit Frühstück aus?«

»Einen Moment, ich muss erst mal meinen Rucksack suchen«, sagte Ella. Sie tastete in der Kiste herum. »O Mann, du hast dich draufgelegt. Heb mal deinen Hintern! So! Jetzt hab ich den Rucksack!«

Sie zog ihn unter Wolfi hervor und öffnete den Reißverschluss. Bald hatte sie das Werwolf-Futter gefunden, öffnete die Schachtel und schüttete etwas Schnappi auf ihren Schoß. Das Futter sah aus wie Kartoffelchips …

»Danke!« Wolfi machte sich gleich darüber her.

Auch Ella merkte, dass ihr Magen knurrte. Sie angelte eine Flasche Bluta aus ihrem Rucksack, schraubte sie auf und trank. Hmmmm, wie das schmeckte! Ella fühlte sich gleich viel besser.

»Dauert es noch lange, bis wir ankommen?«, fragte Wolfi und leckte sich die Krümel von der Schnauze.

»Gegen Mittag sind wir da«, antwortete Ella. »Allerdings müssen wir noch bis zum Anbruch der Dunkelheit in meiner Kiste bleiben. Erst dann können Konrad und Viktor uns abholen.«

»Oje«, maulte Wolfi. »Das ist aber noch lange!«

Ella überlegte. Sie nahm ihre Finger zu Hilfe und rechnete nach. »Vier, fünf, sechs …« Vor einigen Tagen hatte sie ein Bad mit Sonnenmilch genommen. Das war eine besondere Sonnenmilch, die Konrads Oma zusammengemischt hatte. Sie hatte die Eigenschaft, dass sie Vampire vor der schädlichen Wirkung der Sonnenstrahlen schützte. Sie konnten dann auch tagsüber aus ihren Särgen und Kisten klettern, ohne von der Sonne verbrannt zu werden. Die Wirkung eines solchen Bades hielt sieben Tage an.

»Einen Tag habe ich noch«, murmelte Ella vor sich hin. »Ich müsste also nach der Ankunft nicht in meiner Kiste bleiben, sondern könnte mich schon einmal umsehen.« Sie wurde plötzlich ganz fröhlich.

»Bis Konrad und Viktor kommen, können wir schon mal einen Spaziergang machen«, verkündete sie. »Wie gut, dass du ein Werwolf bist und dir Tageslicht nichts ausmacht.«

Wolfi freute sich. »O prima! Meine Beine sind schon ganz steif, weil es hier so eng ist. Ich kann es gar nicht erwarten, aus der Kiste zu steigen!«

»Ein bisschen Geduld müssen wir schon noch haben«, meinte Ella, obwohl sie am liebsten auch gleich aus der Kiste geklettert wäre. Die lange Reise war schon sehr anstrengend …

»Erzählst du mir wieder eine Geschichte?«, bettelte Wolfi.

»Ich glaube, du kennst schon alle meine Geschichten«, sagte Ella und seufzte.

»Das macht nichts. Sie sind trotzdem spannend«, behauptete Wolfi.

Ella zermarterte sich den Kopf. »Die Geschichte von den beiden Vampirfamilien, die sich um ein Schloss streiten?«

»Au ja, die ist so schön lang!«, rief Wolfi und kuschelte sich wieder zurecht, während Ella zu erzählen begann.