Etwas Nasses wischte über Ellas Gesicht. Unwillig öffnete sie die Augen.
»Ach, du bist es, Wolfi! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du mich nicht abschlecken sollst?«, Sie seufzte und wollte sich aufsetzen. Mit dem Kopf stieß sie gegen den Kistendeckel. »Aua!«
Sie stemmte ihn hoch und sah sich um.
In der Gruft war es dunkel. Noch immer flackerten etliche Kerzen. Neben Ellas Kiste stand Roswithas Sarg, in dem es jetzt zu rumoren begann.
»Ist es wirklich schon Abend?« Ella gähnte und schwang ihre Beine über den Kistenrand. »Es kommt mir vor, als sei ich eben erst eingeschlafen!« Sie streckte sich ausgiebig, während Wolfi mit einem Satz aus der Kiste sprang.
Der Sargdeckel knarrte, und kurz darauf war Roswithas lachendes Gesicht zu sehen. Ihre Augen blitzten unternehmungslustig. »Hallo, Ella! Was machen wir heute?«
»Keine Ahnung«, antwortete Ella. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich vergessen habe, Tante Esmeralda eine Botschaft zu schicken. Das will ich gleich nachholen.«
Sie holte Notizblock und einen Stift aus ihrem Rucksack und begann zu kritzeln:
Liebe Tante Esmeralda,
ich bin gut hier angekommen. Mach Dir keine Sorgen! Alle sind sehr nett, und mir geht es gut!
Liebe Grüße, Deine Ella
Sie zog ihre kleine Knochenflöte aus der Tasche und hielt sie an die Lippen. Im Nu gelang es ihr, damit eine Fledermaus anzulocken. Das Flattertier plumpste in ihren Schoß. Ella befestigte den Zettel an einem Bein.
»Kannst du die Nachricht zu meiner Tante bringen? Es ist eine weite Reise! Du musst nach Deutschland, zur Burg Wildenstein! Dort musst du nach Esmeralda fragen!«
Die Fledermaus piepste als Zeichen, dass sie alles verstanden hatte.
»Dann guten Flug!«, sagte Ella und warf die Fledermaus in die Luft. Das kleine Tier machte, dass es zur Gruft hinauskam.
»Cool«, sagte Roswitha bewundernd. »Du kannst Fledermäuse zähmen.«
»Nein, nicht wirklich«, sagte Ella. »Das macht meine Flöte. Sie ruft Fledermäuse herbei, aber nur solche, die zum Überbringen von Nachrichten ausgebildet sind.« Sie holte tief Luft. »Hoffentlich kommt meine Nachricht auch tatsächlich an.«
Nebenan wurde es laut. Ella spitzte die Ohren. Was war denn da los? Die Barthenfels schienen sich über etwas schrecklich aufzuregen! Ella rutschte vom Kistenrand. Da kam Konrad in das Gewölbe. Sein Haar war zerzaust und sein Schlafanzug ganz zerknittert. Er sah aus, als sei er eben erst aus dem Sarg gestiegen.
»Hallo, Ella! Gut, dass du schon wach bist!«
»Was ist denn passiert?«, fragte Ella.
»Opa Rudi ist verschwunden!«, antwortete Konrad. »Oma Friedel ist ganz aus dem Häuschen. Sie macht sich große Sorgen!«
»Weg?«, wiederholte Ella fassungslos.
»Ja«, bestätigte Konrad. »Oma Friedel behauptet, er hätte überhaupt nicht in seinem Sarg geschlafen. Das Bettzeug ist unbenutzt.«
»Ach, du liebe Zeit!« Ella spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. »Wenn er am Tag unterwegs war! Hoffentlich hat die Sonne ihn nicht verbrannt!«
»Das hoffe ich auch.« Konrad sah ganz unglücklich aus. Er griff nach Ellas Hand. »Hilfst du mir, Opa Rudi zu suchen?«
»Klar«, sagte Ella sofort. »Und Wolfi hilft auch. Er hat eine gute Spürnase!«
Sie folgte Konrad nach nebenan. Die Barthenfels liefen in der Gruft umher wie aufgescheuchte Hühner. Nur Thea saß auf einem geschlossenen Sarg und versuchte, die anderen zu beruhigen.
»Jetzt regt euch doch nicht so auf! Opa Rudi wird schon keine Dummheiten gemacht haben! Er weiß schließlich ganz genau, wie gefährlich das Sonnenlicht für einen Vampir ist.«
»Hat er in Oma Friedels Sonnenmilch gebadet?«, fragte Ella.
Oma Friedel kam aus einer Ecke. Sie rang die Hände. »Das weiß ich leider nicht, mein Kind. Bisher hat er es noch nicht gemacht, und er hat mir auch nicht erzählt, dass er es vorhat. Aber wer weiß, was in seinem Kopf vorgeht.« Sie seufzte. »Herrje, herrje, hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen! Ich habe so ein ungutes Gefühl!«
»Wir werden uns nachher gleich auf die Suche machen«, versprach Konrad. Er legte den Arm um seine Oma. »Jetzt mach dir mal nicht so große Sorgen. Wir finden Opa Rudi ganz bestimmt!«
»Hoffentlich.« Oma Friedel wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Weil sich Ella und Konrad zum Frühstücken keine Zeit nahmen, machte Thea ihnen zwei Vesper-Pakete zurecht. Wolfi stärkte sich schnell mit einer Schale Schnappi. Dann musste er an einer Jacke riechen, die Oma Friedel ihm vor die Nase hielt. Die Jacke gehörte Opa Rudi, und er hatte sie erst vor kurzem getragen.
»Merkst du dir Opa Rudis Geruch, Wolfi?«, fragte Ella.
Wolfi nickte. »Er riecht ein bisschen nach moosbewachsener Mauer, nach alten Socken und Pfefferminz und nach der Suppe von gestern.«
»Hm«, machte Ella. »Klingt kompliziert.«
Aber Wolfi heftete seine Nase schon auf den Boden. »Hier ist er entlanggelaufen!«, verkündete er und sah Ella strahlend an.
»Ja, sicher, er war ja gestern noch da«, sagte Ella und drehte nervös eine Haarsträhne um ihren Finger. »Du musst draußen seine Spur finden, im Freien.«
Wolfi grunzte und näherte sich schnuppernd dem Ausgang. Konrad und Ella folgten ihm. Thea lief ihnen hinterher und drückte ihnen noch rasch das Vesper in die Hand.
»Das hättet ihr fast vergessen. Wer weiß, wie lange ihr unterwegs sein werdet! Ich drücke euch die Daumen, dass ihr Opa Rudi findet.«
»Wir suchen selbstverständlich auch«, meldete sich Konrads Vater Paul zu Wort. »Ich gehe mit Viktor. Udo und Anna bilden den dritten Suchtrupp. Thea und Oma Friedel bleiben hier, damit jemand zu Hause ist, falls Opa Rudi zurückkommt.«
»Und was ist mit mir?«, plärrte Roswitha mit durchdringender Stimme. »Ich will Opa Rudi auch suchen!«
»Du kommst am besten mit uns mit«, entschied Konrad. »Aber du musst tun, was wir dir sagen, und darfst nicht einfach davonlaufen. Versprichst du das?«
Roswitha nickte mit großen Augen.
Ella nahm Roswitha an der Hand, dann zogen sie los. Wolfi lief voraus. Am Eingang der Gruft blieb er stehen und schnupperte, dann wandte er sich nach links.
Konrad warf Ella einen Blick zu. »Opa Rudi ist in Richtung See gegangen, hinunter in die Ortschaft.«
»Hm«, machte Ella. Sie überlegte. »Vielleicht … äh … na ja … vielleicht hatte er Durst«, sagte sie dann.
»Aber warum zieht er dann nicht in der Nacht los?« Konrad schüttelte den Kopf. »Nein, es muss einen anderen Grund geben.«
»Opa Rudi ist bestimmt weggegangen, weil er sich mit Oma Friedel gestritten hat«, sagte Roswitha und hüpfte neben Ella her. »Sie haben sich sogar angebrüllt. Opa Rudi hat ein Fläschchen zerbrochen, und das hat Oma Friedel geärgert. ›Ach, du mit deinen ganzen Fläschchen und Tiegeln!‹, hat Opa Rudi dann gemeint. ›Die machen dich auch nicht jünger und schöner!‹«
»Oh!« Ella blickte Konrad betroffen an. »Das hat er wirklich zu Oma Friedel gesagt?«
»Ja, ich habe es ganz deutlich gehört«, beteuerte Roswitha. »Darauf hat Oma Friedel gerufen: ›Dann scher dich doch davon, wenn ich dir nicht mehr gut genug bin!‹«
Konrad blieb stehen. »Oma hat Opa rausgeworfen?«
Roswitha nickte.
»Und wann war das?«, wollte Konrad wissen.
»Das weiß ich nicht mehr so genau«, murmelte Roswitha. »Ich war schon eingeschlafen, aber dann musste ich noch mal dringend aufs Klo und bin aus meinem Sarg geklettert. Da hab ich gehört, wie sie sich gestritten haben. Ich war aber so müde, dass ich danach gleich wieder in meinen Sarg gestiegen bin. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Opa Rudi wirklich fortgeht.«
Ella streichelte Roswitha über den Kopf. »Nein, das konntest du wirklich nicht ahnen. – Gut, dass du uns von dem Streit erzählt hast. Jetzt wissen wir wenigstens, warum Opa Rudi weggegangen ist.«
Sie gingen schweigend weiter. Wolfi lief durchs Gebüsch, es raschelte. Ab und zu fiepte irgendwo eine Maus.
»Ob er … ob er vielleicht in den See gefallen ist?«, fragte Ella dann leise. »Der See ist riesig, da kann man bestimmt leicht ertrinken.« Was für ein furchtbarer Gedanke! Sie schüttelte sich.
»Opa Rudi kann doch schwimmen«, meinte Konrad. »Vielleicht hat er sich auch ein Segelboot gemietet und macht einen Ausflug …«
»Tagsüber?«, fragte Ella.
»Warum nicht?«, gab Konrad zurück. »Er kennt das Geheimnis der Sonnenmilch … Vielleicht hat er heimlich eine Flasche mitgenommen.«
Sie näherten sich jetzt der kleinen Ortschaft. Ella fand es schön, wie sich die Lichter im Wasser des Sees widerspiegelten. Wenn nur die Angst um Opa Rudi nicht gewesen wäre …
Wolfi lief schnuppernd hin und her. Mal tappte er nach links, dann nach rechts – einmal so knapp, dass Ella fast über ihn stolperte.
»Mann, Wolfi!«, schimpfte sie. »Warum läufst du denn zickzack? Folgst du wirklich einer Spur?«
»Opa Rudi hat vielleicht einen über den Durst getrunken«, vermutete Konrad. »Aus lauter Kummer, weil Oma Friedel ihn rausgeschmissen hat. Oma Friedel hat eine Menge Kräuterliköre gemacht – zur Vorbeugung gegen Erkältungen im Winter. Aber Opa trinkt sie auch im Sommer, und manchmal hat er einen kleinen Schwips.«
»Das macht unsere Suche nicht einfacher.« Ella seufzte. »Vielleicht konnte er nicht mehr klar denken – und wer weiß, was dann mit ihm passiert ist.«
Der Feldweg endete, und sie liefen nun eine Straße entlang. Links und rechts standen Häuser. Sie waren hübsch anzusehen mit ihren gepflegten Vorgärten. Ella starrte in die Fenster und grübelte. Ob Opa Rudi einfach an irgendeiner Tür geklingelt hatte? Vielleicht saß er jetzt bei irgendwelchen Menschen auf dem Sofa vor dem Fernseher – und keiner im Haus ahnte, dass sie einen Vampir eingelassen hatten!
Aber Wolfi hatte noch immer Opa Rudis Spur, und die führte weiter in den Ort hinein bis zu einer Bushaltestelle.
»Ich kann nichts mehr riechen«, beschwerte sich Wolfi und umkreiste die Stelle immer wieder. »Die Spur hört einfach auf. Wie kann das sein? Ist Opa Rudi einfach davongeflogen?«
»Er ist vermutlich in den Bus eingestiegen«, sagte Konrad.
Ella versuchte schon, den Fahrplan zu entziffern. Von hier aus konnte man die nächsten Ortschaften erreichen, aber auch bis in eine größere Stadt fahren …
»Oje«, rutschte es ihr heraus. »Opa Rudi kann überall ausgestiegen sein. Den finden wir nie …« Sie wurde ganz mutlos.
»Mein Opa hat immer davon geredet, dass er eine Weltreise machen will«, erinnerte sich Konrad. »Vielleicht ist es jetzt so weit. Er hat den Bus bis in die Stadt genommen. Von dort aus kann er mit dem Zug weiterfahren oder sogar ein Flugzeug benutzen …«
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Ella.
»Zur Gruft zurückgehen und den anderen erzählen, wo unsere Spur aufgehört hat«, meinte Konrad. »Und dann knöpfe ich mir Oma Friedel vor und frage sie, warum sie uns nicht gesagt hat, dass sie Opa Rudi rausgeschmissen hat. Wer weiß, vielleicht hat Opa Rudi ja eine Andeutung gemacht, wohin er gehen will.«