Die Suche geht weiter …

Als Ella, Konrad und Roswitha zurückkehrten, war Oma Friedel allein in der Gruft. Sie saß auf ihrem Sarg und hatte eine grüne Kräutermaske auf dem Gesicht. Um sie herum standen unzählige Töpfchen und Fläschchen.

»Oh, ihr seid schon zurück«, begrüßte sie die Ankömmlinge. »Habt ihr etwas herausgefunden?«

»Opa Rudi ist in den Bus eingestiegen, aber wir haben keine Ahnung, wohin er gefahren ist«, sagte Konrad und setzte sich neben Oma Friedel auf den Sarg. Dazu musste er sich erst ein wenig Platz schaffen und einige von den Töpfchen auf die Seite räumen.

»Aber warum hast du uns nicht erzählt, dass ihr euch gestritten habt und Opa Rudi im Zorn weggegangen ist?«, fragte er dann.

Oma Friedel fuchtelte mit ihren Händen. »Oh … das … äh … Es war mir einfach peinlich.« Sie schluckte. »So ein dummer Streit! Es hat mir hinterher auch leidgetan, dass ich mich so aufgeregt habe. Aber Opa Rudi hat mich geärgert. Er hat behauptet, dass ich eitel bin. Dabei muss man wirklich etwas für seine Haut tun, wenn man mal über vierhundert Jahre alt ist. Und es macht mir eben Spaß, meine Cremes und Salben selbst zu mischen. Aber das hat Opa Rudi nicht verstanden.«

»Ach, Opa Rudi hat wahrscheinlich nur Spaß gemacht«, meinte Konrad. »In Wirklichkeit bewundert er dich, weil du dich so gut mit Kräutern auskennst.«

Oma Friedel senkte den Kopf. »Es tut mir leid«, wiederholte sie leise. »Ich habe ihn sogar rausgeworfen. Ich hätte ja nie gedacht, dass er wirklich geht! Doch er hat seinen Hut, seinen Rucksack und seinen Wanderstock genommen und ist davonmarschiert, obwohl gerade die Sonne aufgegangen ist.« Sie fing an zu weinen. Ihre Tränen hinterließen zwei lange Streifen in der Kräutermaske.

»Und er ist nicht verbrannt?«, wollte Ella wissen.

»Nein.« Oma Friedel schüttelte den Kopf. »Er muss heimlich meine Sonnenmilch benutzt haben, obwohl er sich auch darüber lustig gemacht hat.«

Sie griff nach einem Tuch, um sich die Maske aus dem Gesicht zu wischen. Ella sah ihr interessiert dabei zu.

»Jedenfalls wissen wir jetzt, dass das Tageslicht Opa Rudi nicht geschadet hat«, sagte Konrad und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Die Sonnenmilch schützt ihn höchstens sieben Tage, vergiss das nicht«, erinnerte Oma Friedel ihn.

»Immerhin«, sagte Konrad. »Und in sieben Tagen ist Opa Rudi doch bestimmt wieder zurück. Das hoffe ich wenigstens.«

»Falls er nicht ans andere Ende der Welt reist.« Oma Friedel verdrehte die Augen. »Er ist mir bestimmt furchtbar böse, weil ich ihn rausgeschmissen habe. Ob er mir je verzeihen kann? Ach, was war ich denn nur für ein Dummkopf!«

»Können wir nicht Fledermäuse fragen, ob sie Opa Rudi gesehen haben?«, schlug Ella vor. »Die kommen schließlich weit herum und sehen viel. Ein Vampir fällt ihnen sicher auf.«

Zwischen Vampiren und Fledermäusen herrschte in der Regel gute Freundschaft. Die Fledermäuse fürchteten sich nicht vor Vampiren und ließen sich gerne mal auf einem nieder. Manche hängten sich an die Haare oder an die Schulter und begleiteten einen Vampir viele Stunden lang …

»Gute Idee«, fand Konrad.

»Ich werde mit meiner Flöte einige Fledermäuse herbeirufen und ihnen sagen, dass sie nach Opa Rudi Ausschau halten sollen.« Ella stand auf und verließ die Gruft. Draußen setzte sie sich auf einen großen Stein, holte ihre Flöte aus der Tasche und begann zu spielen. Es dauerte gar nicht lange, bis am Nachthimmel die ersten Fledermäuse erschienen, um Ella herumflatterten und auf ihrem Schoß landeten. Ella streichelte behutsam die kleinen Tierchen, die sich piepsend und quiekend auf ihrem Rock tummelten.

»Hört mir mal zu, ihr Lieben«, sagte sie. »Ihr müsst uns helfen! Opa Rudi ist nämlich verschwunden, und wir machen uns große Sorgen um ihn. Ihr kennt ihn sicher, er hat weiße Haare und einen auffallenden Schnurrbart.«

Die Fledermäuse zwitscherten leise. Ella nahm eine in die Hand und schaute ihr in die dunklen Knopfaugen.

»Bitte«, sagte sie. »Haltet nach ihm Ausschau! Und sagt auch euren Freunden Bescheid! Je mehr Fledermäuse nach Opa Rudi suchen, desto besser!«

»Kapiert, kapiert«, antwortete die kleine Fledermaus auf Ellas Hand. »Wir helfen gerne!«

»Danke!« Ella warf das Tierchen in die Luft. Die anderen Fledermäuse folgten und stiegen wie eine dunkle Wolke auf. Ella blickte ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann betrachtete sie noch eine Weile den Sternenhimmel, bevor sie in die Gruft zurückkehrte.

Oma Friedel hatte inzwischen die Kräutermaske vollständig aus ihrem Gesicht entfernt. Sie betastete ihre Haut und fragte Ella, als sie kam: »Findest du, dass ich jetzt frisch und erholt aussehe?«

Ella starte Oma Friedel an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich finde, dass du ziemlich traurig aussiehst.«

»Hm«, machte Oma Friedel. »Das habe ich befürchtet. Gegen Streit und Kummer hilft eine Kräutermaske nicht. Ach je, ach je! Ich fürchte, bis Opa Rudi zurück ist, habe ich tausend neue Runzeln. Ob er mich dann überhaupt noch mag?«

»Bestimmt mag er dich noch«, sagte Konrad. »Er hat es ja schon über dreihundert Jahre mit dir ausgehalten.«

»Ich habe den Fledermäusen Bescheid gegeben«, erzählte Ella. »Sie werden nach Opa Rudi Ausschau halten.«

»Danke, mein Kind!« Oma Friedel tätschelte Ellas Schulter. »Was könnten wir denn noch machen, um ihn zu finden?«

Konrad und Ella überlegten. Roswitha, die die ganze Zeit mit Wolfi gespielt hatte, hob den Kopf.

»Wir könnten eine Suchmeldung bei der Polizei aufgeben«, schlug sie vor.

»O nein«, sagte Oma Friedel sofort. »Polizei – die ist nur für Menschen da. Auf uns Vampire ist sie gar nicht gut zu sprechen! Am Ende locken wir noch Polizisten in unsere Gruft – und was dann passiert, möchte ich gar nicht wissen. Nein, keine Polizei, auf gar keinen Fall!«

Auch Konrad und Ella fanden die Idee mit der Polizei nicht gut. Polizisten waren neugierig und steckten ihre Nase oft in Angelegenheiten, die sie nichts angingen. Und wenn sie dann auch noch einen Vampir witterten … oje!

»Wir könnten Plakate mit Opa Rudis Bild aufhängen«, sagte Konrad. »Ich habe ja mal eine Zeichnung von ihm gemacht, die ist ganz gut geworden. Vampire lassen sich ja leider nicht fotografieren …«

»Kein schlechter Einfall«, meinte Ella.

»Ja, wir müssten nur jemanden finden, der die Zeichnung mit dem Computer einscannt und dann einige Male ausdruckt«, überlegte Konrad laut. »Ich glaube, Viktor kennt einen jungen Typen, der einen Computer besitzt. Mit ihm trifft er sich öfter mal.«

»Viktor ist mit einem Menschen befreundet?«, fragte Oma Friedel mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Warum nicht?« Konrad legte seiner Oma beruhigend die Hand auf den Arm. »Oma, die Zeiten haben sich geändert. Heute sind Vampire manchmal mit Menschen befreundet. Vampire treffen Menschen nicht mehr nur, um sie auszusaugen … Es gibt ja inzwischen auch Bluta und all diese anderen Ersatznahrungen … Die Wissenschaft hat große Fortschritte gemacht.«

»Hm«, machte Oma Friedel kopfschüttelnd. »Ich fürchte, dass diese ganzen künstlichen Zusatzstoffe eines Tages noch dazu führen, dass sich Vampire in Menschen verwandeln …«

»Ich werde mit Viktor reden, sobald er zurückkommt«, nahm sich Konrad vor. »Dann hängen wir die Plakate in der ganzen Umgebung auf. Vielleicht hilft es ja, Opa Rudi zu finden.«

»Und wenn er so ein Plakat sieht, dann weiß er, wie sehr wir ihn vermissen«, fügte Oma Friedel hinzu und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Könnt ihr auch auf das Plakat schreiben, dass es mir leidtut?«

»Klar, Oma«, sagte Konrad. »Das ist kein Problem.«

 

Einige Zeit später kamen die anderen Suchtrupps zurück. Niemand hatte eine Spur von Opa Rudi gefunden. Es gab keinerlei Hinweis, wohin er gegangen war. Die Familie Barthenfels war sehr niedergeschlagen. Thea war so gedrückt, dass sie nicht einmal Lust zum Kochen hatte, obwohl sie sonst sehr gern kochte. Die Lage war ernst.

Konrad ging zu seinem Bruder Viktor. »Triffst du dich noch mit diesem Holger?«

»Ab und zu«, antwortete Viktor. »Warum?«

»Vielleicht kann er uns einen Gefallen tun«, sagte Konrad und erzählte von seinem Plan mit dem Plakat.

Viktor hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob Holger das machen wird, aber ich kann ihn ja einmal fragen. Wo ist denn deine Zeichnung?«

Konrad musste sie erst aus seinem Sarg holen, wo er sie aufbewahrt hatte. Als er sie auseinanderrollte, standen alle um ihn herum und wollten das Bild sehen.

»Toll«, sagte Ella. »Du kannst wirklich gut zeichnen, Konrad!«

Konrad sah sie an und lächelte. »Danke.«

»Na ja«, meinte Viktor, »Opa Rudi hat in Wirklichkeit kein so dickes Gesicht. Und die Nase ist auch nicht so lang.«

»Aber auf dem Bild kann man ihn gut erkennen, und allein darauf kommt es an«, sagte Thea. »Ich finde, du hast Opa Rudi prima getroffen, Konrad.«

»Das finde ich auch.« Oma Friedel nickte und musste sich schon wieder eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. »Wenn ihr die Zeichnung nicht mehr braucht, kann ich sie dann haben? Ich würde sie gern in meinem Sarg aufhängen. Dann fühle ich mich vielleicht nicht mehr ganz so einsam, bis Opa Rudi zurückgekehrt ist.«

»Wenn die Plakate fertig sind, dann kannst du die Zeichnung gerne haben«, sagte Konrad.

Viktor kratzte sich am Kinn. »Es ist zwar schon lange Mitternacht vorbei, aber ich könnte Holger noch aufsuchen. Er ist oft fast die ganze Nacht wach, weil er mit Leuten auf der anderen Seite der Erde chattet. Wenn ich Glück habe, treffe ich ihn wach an.«

Konrad überreichte seinem Bruder die Zeichnung. »Ich drücke dir die Daumen.«

Viktor steckte die zusammengerollte Zeichnung unter seinen Umhang. »Und was sollen wir jetzt auf die Plakate schreiben? Wir brauchen einen Text!«

Konrad, Viktor, Ella und Roswitha steckten ihre Köpfe zusammen, und wenig später waren sie sich einig, was auf dem Plakat stehen sollte.

OPA RUDI WIRD VERMISST!

BITTE KOMM BALD WIEDER HEIM!

WIR BRAUCHEN DICH,

GANZ BESONDERS OMA FRIEDEL!

Auch die anderen fanden den Text gut. Konrad schrieb ihn auf einen Zettel, den Viktor einsteckte. Dann verließ der Vampir die Gruft und verschwand in der Dunkelheit.

»Hoffentlich ist Holger zu Hause«, murmelte Konrad. »Und hoffentlich hilft er uns, damit wir die Plakate möglichst bald aufhängen können.«

Jetzt blieb den Vampiren nichts anderes übrig, als zu warten. Roswitha bettelte so lange, bis Ella mit ihr Sarghüpfen spielte. Man musste über sämtliche Särge in der Gruft springen, und dabei wurde die Zeit gestoppt. Wenn man den Sarg berührte oder an ihm hängenblieb, gab es Strafsekunden. Wolfi wollte unbedingt auch mitmachen.

»Das ist unfair, denn du hast vier Pfoten und kannst viel besser springen als wir«, fand Ella. Aber weil Roswitha so quengelte, durfte Wolfi dann doch mitmachen. Konrad stoppte mit einer alten Taschenuhr die Zeit.

Es begann eine wilde Jagd durch die Gruft. Wolfi war natürlich sehr schnell, aber Ella schnitt auch nicht schlecht ab. Roswitha bekam fünf Sekunden Vorsprung, weil sie die kürzesten Beine hatte. Jeder musste drei Runden laufen. Ella war danach völlig außer Atem. Roswitha ließ sich japsend zu Konrads Füßen fallen. Dieser rechnete die Zeiten aus.

»Also: Der dritte Platz geht an Wolfi«, verkündete er. »Er war zwar der Schnellste, hat aber immer wieder mit den Hinterbeinen die Särge berührt und bekommt deswegen Strafsekunden. Ella, du bist Zweitbeste, gratuliere! Roswitha, du kleines Biest, du hast gewonnen. Ich erkläre dich zur weltbesten Sarghüpferin! Wahrscheinlich übst du auch ständig. Herzlichen Glückwunsch!«

Roswitha strahlte. »Eigentlich müssten die anderen auch mitmachen, Mama und Oma Friedel, und Papa und Onkel und Tante …«

»Ach, ich glaube, die machen sich nicht so viel aus Sarghüpfen«, meinte Konrad. »Außerdem tun denen dann hinterher nur wieder die Knie weh. Nein, nein, es ist schon in Ordnung! Du bist die Beste, Roswitha!« Er bastelte aus Papier einen Siegerkranz und hängte ihn Roswitha um.

Roswitha grinste. Dabei fiel Ella auf, dass sie schon zwei beachtlich scharfe Eckzähnchen hatte. Das war ungewöhnlich! Normalerweise bekamen Vampire ihre Reißzähne erst, wenn sie älter waren … Ob es vielleicht auch an irgendeinem Mittel lag, das Oma Friedel zusammengemischt hatte?