Ella wusste gar nicht, wohin sie zuerst schauen sollte.
»Ich bin Thea, Konrads Mutter«, rief eine unglaublich dicke Vampirfrau. »Ich freue mich so, dass du da bist!«
Sie umarmte Ella. Diese glaubte fast, ersticken zu müssen, denn Konrads Mutter trug einen Umhang aus mehreren Schichten Stoff – und Ella wurde ganz eingehüllt. Ihr wurde schwindelig von den unterschiedlichen Gerüchen: nach Gruft und Moder, nach Gulaschsuppe mit Paprika, nach Lavendel und Arnika … Endlich ließ Konrads Mutter Ella frei. Ella schnappte nach Luft, aber da wurde sie schon vom nächsten Vampir umarmt, diesmal von Konrads Vater Paul. Er war lang und dürr.
»Thea wollte euch schon entgegenlaufen, weil sie es nicht mehr abwarten konnte«, sagte er und schwenkte Ella einmal im Kreis. »Schön, dass ihr hier seid!«
Danach musste Ella die Begrüßung von Onkel Udo und Tante Anna über sich ergehen lassen. Anna war fast so dick wie Thea. Sie trug keinen Umhang, sondern einen dunklen Trainingsanzug.
Onkel Udo war sehr höflich. »Ich hoffe, du bist nach der langen Reise wohlauf? Oh, ich finde, es geziemt sich nicht, ein so junges Mädchen allein reisen zu lassen. Deine Tante hätte dich begleiten sollen.«
»Sie hatte leider keine Zeit«, entgegnete Ella. »Aber ich werde ihr nachher gleich eine Nachricht per Fledermaus schicken, dass ich gut angekommen bin.«
»Aber erst musst du mit mir spielen«, rief eine Stimme. Eine kleine Hand zerrte Ella zur Seite.
»Und du bist Roswitha!«, sagte Ella zu dem kleinen Mädchen.
Roswitha nickte. Sie hatte blonde Locken, ein rundes Gesicht und trug einen pinkfarbenen Umhang, auf den silberne Fledermäuse aufgestickt waren. Sie glitzerten im Dunkeln.
»Konrad hat gesagt, dass du bestimmt auch meine Freundin wirst«, plapperte die Kleine. »Ich habe noch nie eine Freundin gehabt. Hier gibt es nur erwachsene Vampire oder Jungs. Das ist ganz schön gemein!«
»O ja, das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Ella, während Roswitha sie in die Felsöffnung zerrte. In der Gruft brannten überall Kerzen.
»Willst du meinen Sarg sehen?« Roswitha wartete Ellas Antwort nicht ab, sondern zog sie in einen kleinen Nebenraum. Dort stand ein kleiner Sarg, der lila angestrichen war. Er quoll über vor Kuscheltieren: haarige Spinnen, ein Plüsch-Werwolf, verschiedene Teufelchen, Mäuse, Ratten und ein Wildschwein.
»Hast du denn da überhaupt noch Platz zum Schlafen?«, fragte Ella.
»O ja, das geht schon«, sagte Roswitha. »Guck mal, was mein Sarg kann!« Sie klappte den Deckel zu. Eine Spieluhr begann Guten Abend, gute Nacht zu spielen.
»Toll!«, rief Ella.
Jetzt kam Konrad in den Raum. Er grinste.
»Ich dachte mir schon, dass dich Roswitha hierhergeschleppt hat«, sagte er. »Jetzt komm wieder mit mir, Ella. Opa und Oma wollen dich auch begrüßen.«
»Oh, noch mehr Leute!«, entfuhr es Ella. Aber sie folgte Konrad.
Als sie das große Gewölbe betrat, kam ihr schon ein weißhaariger Vampir entgegen. Er sah sehr freundlich aus und hatte einen auffälligen Schnurrbart.
»Hallo, Ella, ich bin Opa Rudi«, begrüßte er sie und schüttelte ihre Hand. »Im Namen der Familie Barthenfels heiße ich dich herzlich willkommen. Ich bin sozusagen das Familienoberhaupt, wenn mich meine Frau nicht verdrängt.« Er schmunzelte.
Oma Friedel stand direkt hinter ihm. Als Ella ihr die Hand gab, roch sie sofort den vertrauten Duft nach Sonnenmilch. Oma Friedel hatte das Wundermittel ja erfunden. Sie experimentierte viel mit Kräutern, wie Konrad Ella erzählt hatte.
»Hallo, Ella«, sagte Oma Friedel. »Schön, dass du endlich da bist.«
»Konrad hat gesagt, dass du dich super mit Kräutern auskennst«, platzte Ella heraus.
»Ja, das stimmt«, antwortete Oma Friedel. »Wenn du willst, kann ich dir in der nächsten Zeit ein bisschen was zeigen. Ein paar einfache Sachen, zum Beispiel, wie man Cremes anmischt.«
»Au ja, das wäre prima!« Ella freute sich.
Oma Friedel lächelte. Sie hatte blaue Augen, die regelrecht funkelten. Ihr weißes Haar war in lauter kleine Zöpfchen geflochten. An den Ohren hatte sie Stecker, die wie Hirschkäfer aussahen. Vielleicht waren es auch echte Käfer, das konnte Ella nicht genau erkennen. Sie trug ein weit geschnittenes Kleid aus regenbogenfarbener Seide, dazu eine Kette aus Kastanien.
»Bestimmt bist du hungrig«, sagte Oma Friedel. »Meine Schwiegertochter ist schon fleißig dabei zu kochen. Sie ist eine hervorragende Köchin! Ich kann das längst nicht so gut wie sie.«
»Ja, es riecht hier schon ganz lecker«, meinte Ella und schnupperte. Ein verlockender Suppenduft kam aus einer Ecke der Gruft. Dort stand Thea von Barthenfels vor einem großen, dampfenden Kessel und rührte mit einem langen Holzlöffel. Ab und zu griff sie nach einem Gewürzstreuer und schüttelte diesen kräftig über dem Kessel.
»Essen ist in ein paar Minuten fertig«, verkündete sie.
Paul von Barthenfels rieb sich den Bauch. »Ich kann es kaum erwarten!«
Wenig später saßen alle Vampire an einem langen Holztisch, und Thea schöpfte die Suppe in Teller. Roswitha drängte sich zwischen Ella und Konrad und grinste Ella fröhlich an.
»Eine extra große Portion für unseren Gast«, sagte Thea und stellte einen Teller vor Ella ab. Er war bis zum Rand gefüllt. Verschiedene Kräuter schwammen darin.
»Gulaschsuppe mit meinem Spezial-Kürbis-Mischmasch, extra für Vampire«, verkündete Thea stolz. »Vitaminreich, stärkt die Sehkraft in der Nacht und wirkt außerdem auch noch gegen Flugangst – obwohl die keiner von uns hat.« Sie lachte. »Lass es dir gut schmecken, liebe Ella!«
Ella tauchte ihren Löffel in die Suppe und probierte vorsichtig. Die Suppe war sehr heiß und brannte auf ihren Lippen. Vielleicht lag es aber auch an den vielen Gewürzen.
Thea lachte. »Bisher haben alle Vampire meine Suppe geliebt, auch die, die sonst nur Blut trinken.«
Ella musste husten. Roswitha trommelte ihr auf den Rücken.
»Geht schon wieder, ich habe mich nur verschluckt«, meinte Ella und war beim nächsten Löffel noch vorsichtiger.
Doch die Suppe war wirklich gut. Sie schmeckte besser als alles andere, was Ella in ihrem bisherigen Leben gegessen hatte.
»Ich will niemals Menschen beißen«, erklärte Roswitha neben ihr. »Muss man das?«
»Erst, wenn du groß bist«, antwortete Ella.
»Nö, das mache ich dann auch nicht«, behauptete Roswitha. »Ich finde Blut voll eklig. Ich werde nie Blut trinken, igitt!«
»Warte mal ab, wie du später darüber denkst«, meinte Konrad und klopfte seiner kleinen Schwester auf die Schulter.
»Wie wär’s mit ein bisschen Musik?«, rief Onkel Udo. Er griff nach einem Musikinstrument aus Walknochen. Darüber waren Saiten gespannt. Onkel Udo ließ seine Finger über die seltsame Harfe gleiten. Dann spielte er eine Melodie.
»Wir sind so froh, Ella zu sehen,
sie soll bitte nie wieder gehen!
Sie soll für immer bleiben,
dann braucht sie niemals zu schreiben!
Sie kriegt auch den schönsten Platz in der Gruft!
Wer das nicht will, der ist ein Schuft.«
Die anderen Vampire fielen in seinen Gesang ein, und bald grölten alle am Tisch dieses Lied.
Ella spürte, wie sie rot wurde. Es war ihr peinlich, dass ein Lied über sie gesungen wurde. Sie hatte ja nicht einmal Geburtstag, sondern war nur zu Besuch gekommen. Aber die Barthenfels meinten es sicher gut und wollten ihr eine Freude machen …
Plötzlich störten Misstöne den Gesang. Wolfi begann zu heulen, und zwar ganz laut und schräg.
»Huhu«, beschwerte er sich. »Und was ist mit mir? Ich kriege keine Suppe, und ein Lied wird auch nicht über mich gemacht! Warum bin ich überhaupt mitgekommen? Ich hätte auch zu Hause bleiben können, huhuhu! Keiner mag einen kleinen Werwolf!«
Ella eilte sofort zu ihm hin und nahm ihn in den Arm. »Was redest du da, du dummer Wolfi? Das stimmt doch gar nicht! Ich mag dich, Konrad mag dich und die anderen Vampire hier mögen dich auch! Und meinetwegen kannst du gerne von der Suppe probieren! Aber beschwer dich bitte nicht, wenn dir hinterher schlecht wird.«
Wolfi beruhigte sich wieder und schmiegte sich an Ella. Roswitha stand auf, holte eine Schale und ließ sie von ihrer Mutter mit Suppe füllen. Dann stellte sie die Schale vor Wolfi.
»Hier, bitte sehr! Lass es dir schmecken!« Sie streichelte ein paarmal über seinen Rücken.
Wolfi löste sich von Ella und schnupperte an der Schale. Dann tauchte er seine Schnauze hinein und begann zu schlabbern. Im Nu war die Schale leer. Wolfi hob den Kopf und sah Ella bittend an.
»In Ordnung, du bekommst noch eine Portion«, sagte Ella und seufzte. Sie nahm die Schale und ging damit zu Thea von Barthenfels, die sie noch einmal bis zum Rand füllte.
»Das ist doch schön, wenn es ihm schmeckt!«, freute sie sich.
»Ja, schon, aber ich weiß nicht, ob er die Suppe verträgt«, meinte Ella. »Danke.« Sie nahm die Schale in Empfang und ging damit ganz vorsichtig zu Wolfi zurück, damit die Suppe nicht überschwappte.
Wolfi verdrückte auch in Windeseile die zweite Portion.
»Noch mehr?«, fragte Ella.
»Jetzt bin ich satt«, verkündete Wolfi, schlich in eine Ecke und legte sich hin, den Kopf auf die Schnauze.
Ella kehrte an den Tisch zurück.
»Wie ist es denn bei deiner Tante Esmeralda?«, fragte Roswitha und rückte ganz dicht an Ella heran. »Lebt sie wirklich allein auf einer Burg?«
»Sie ist nicht ganz allein, James ist noch bei ihr«, antwortete Ella.
»Ist das ihr Mann?«, wollte Roswitha wissen.
»Nein, er ist ihr Diener«, erklärte Ella. »Er erledigt alles für sie und fährt sie außerdem noch im Auto spazieren.«
»Sehr praktisch«, meinte Roswitha. »Ich will auch mal einen Diener, wenn ich groß bin.«
Die Zeit verging wie im Flug. Ab und zu musste Ella gähnen, denn sie war ja schon sehr lange wach. Alle wollten etwas von ihr wissen: was sie am liebsten machte, wie sie zu Tante Esmeralda gekommen war und wie es zu Hause bei Ella aussah.
Ella erzählte von ihrer Heimat in Transsylvanien und dass ihre Familie erst vor kurzem hatte umziehen müssen, weil der Friedhof aufgelöst worden war.
»Das war bestimmt sehr aufregend«, meinte Thea.
Ella nickte. »O ja, das war es. Meine Mama hat fast einen Nervenzusammenbruch bekommen. Zum Glück haben wir rechtzeitig eine gemütliche Gruft gefunden, die jetzt unser neues Zuhause ist.«
»Es wird bald hell«, verkündete Roswitha, die zum Eingang gelaufen war und hinausgeschaut hatte. »Die Vögel zwitschern schon!«
»Huch, dann wird es höchste Zeit für uns, in unsere Särge zu steigen«, rief Tante Anna. »Nicht, dass uns noch ein Sonnenstrahl erwischt und verbrennt!«
»Roswitha, du solltest eigentlich längst schlafen«, sagte Thea zu ihrer Tochter.
»Kann Ella ihre Kiste in meine Gruft stellen?«, bettelte Roswitha und sah Ella flehend an.
Thea verdrehte die Augen. »Na ja, ich weiß nicht …«
»Ach ja, warum nicht?« Ella blickte zu Konrad. Dieser nickte und begann, zusammen mit seinem Bruder Ellas Kiste in das Nebengewölbe zu schleppen.
Roswitha hüpfte vor Aufregung auf und ab wie ein Gummiball. »Ich freue mich, ich freue mich! – Komm, Ella!« Sie fasste nach Ellas Hand und zerrte den Gast mit sich.
Wenig später lag Roswitha in ihrem kuscheligen Sarg und Ella in ihrer Kiste. Sie hatte den Deckel geschlossen und lauschte auf die Geräusche in der Gruft. Die Barthenfels machten aber viel Lärm, bevor sie sich zur Ruhe begaben! Besonders Annas durchdringendes Kichern war noch lange zu hören. Aber schließlich wurde es still, und Ella konnte endlich die Augen schließen.
Sie war gerade am Einschlafen, als etwas an ihrer Kiste kratzte.
»Ella, bist du noch wach?«, flüsterte Wolfi leise.
»Nein, Wolfi«, antwortete Ella. »Ich schlafe schon tief und fest! Wirklich!«
»Dann macht es dir ja nichts aus, wenn ich ein bisschen zu dir in die Kiste steige«, murmelte Wolfi. »Ich kann nämlich nicht schlafen. Hier ist alles so fremd!«
Er klappte den Deckel hoch, und bevor Ella es verhindern konnte, war er zu ihr in die Kiste gesprungen. Er kuschelte sich an ihre Seite, legte seinen Kopf auf ihre Brust und grunzte zufrieden.
Ella seufzte. »Du bist echt unmöglich, Wolfi!« Doch dann fielen ihr die Augen zu, sie konnte nichts dagegen tun. Die vergangenen vierundzwanzig Stunden waren sehr anstrengend gewesen …