Ankunft am See

Ella war schon ganz heiser. Sie hatte Wolfi stundenlang Geschichten erzählt und sogar welche erfunden. Jetzt fühlte sich auch ihr Kopf ganz leer an.

»Ich kann nicht mehr«, klagte sie. »Jetzt erzähl mir du doch mal was!«

»Hm, ich weiß aber nichts«, war Wolfis Antwort.

»Du könntest dich ruhig auch mal ein bisschen anstrengen«, meinte Ella.

Vielleicht hätten sie sich gestritten, doch in diesem Moment hielt der Zug. Endlich!

»Wir sind da!«, sagte Ella. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. »Jetzt müssen wir ganz ruhig sein, bis die Kisten ausgeladen sind!«

»Ich bin ganz leise«, versprach Wolfi.

Es rumpelte, als die Waggontür geöffnet wurde. Kurz darauf wurden die Kisten ein Stück hin und her geschoben, auf einen Gabelstapler geladen und ins Freie gebracht.

Ella und Wolfi gaben keinen Mucks von sich. Sie spürten, wie ihre Kiste abgeladen und auf den Boden gestellt wurde. Danach hörten sie noch ein paar Geräusche, aber dann wurde es still.

»Ich glaube, die Leute sind weg«, wisperte Ella. Sie brannte vor Neugier. »Meinst du, ich kann es wagen, den Kistendeckel zu öffnen?«

»Mach doch«, drängte Wolfi.

Vorsichtig stemmte sich Ella gegen den Kistendeckel und hob ihn an. Sie linste durch den Spalt. Es war niemand in der Nähe. Sie drückte den Deckel weiter auf und schwang ihre Beine über den Kistenrand.

»Komm, Wolfi!«

Wolfi sprang mit einem Satz aus der Kiste. Auch Ella rutschte vom Rand herunter. Ihre Beine fühlten sich ein bisschen komisch an, das kam vom langen Liegen.

»Wir sind da, Wolfi! Wir sind tatsächlich da!«, jubelte sie.

Sie strahlte und sah sich um. Die Kisten waren in einem offenen Schuppen abgestellt worden. Ella machte ein paar Schritte und stand im Freien. Über ihr wölbte sich der blaue Himmel.

»Wow, ist das schön hier!« Ella streckte begeistert die Arme aus. Die Sonne wärmte ihre Haut, das war für Ella noch immer ein ungewohntes Gefühl. Ein leichter Wind spielte mit ihren Haaren. Ella schnupperte. Es roch anders als bei Tante Esmeralda auf der Burg. Irgendwie würziger. Und es roch auch nach Wasser …

»Komm, Wolfi, wir gehen ein Stück!«

Der kleine Werwolf war gleich an ihrer Seite, gehorsam wie ein Hund. Sie verließen den Bahnhof. Vor ihnen verlief eine breite Straße, auf der viele Autos fuhren. Ella zögerte und entdeckte dann eine etwas schmalere Nebenstraße, die ruhiger schien. »Hier entlang, Wolfi!«

Lauter hübsche Häuser mit kleinen Gärten! Auf dem Gehsteig standen große Bäume. Laub raschelte über Ellas Kopf. So viele grüne Blätter! Ella war begeistert, wie viele Farben man am Tag sehen konnte. Das war so wunderbar! Ihr Herz fühlte sich an wie ein Vogel, der gleich davonfliegen wollte.

Zwischen den Häusern glitzerte etwas.

»Der See, Wolfi, der See!«, jubelte Ella. Sie rannte los und stand wenig später am Ufer.

Vor ihr lag ein riesiger See. Das Wasser schimmerte grünblau. Dahinter erhoben sich die Berge. Der Anblick nahm Ella den Atem.

»O Wolfi, wie wunderschön es hier ist!«

Weiße Segelboote fuhren in der Ferne übers Wasser. Ella entdeckte auch einige Leute, die ein komisches Brett unter den Füßen hatten und damit übers Wasser glitten. Ihr wurde ganz schwindelig von den vielen Dingen, die sie sah. Sie musste sich auf die rote Bank setzen, die am Ufer stand.

»Wolfi, weißt du, was ich glaube? Konrad wohnt am schönsten Ort der Welt.«

»Na ja«, meinte Wolfi. »So viel Wasser auf einmal. Was kann man damit schon anfangen?«

Ella hatte nicht zugehört. Sie hatte Schwäne entdeckt und juchzte.

»Schau mal, Wolfi, hier gibt es sogar Schwäne!«

»Ja, grrrr! Da freue ich mich aber!«, knurrte Wolfi. »Da habe ich was, das ich jagen kann!«

»Untersteh dich!«, sagte Ella sogleich. »Wenn du das machst, darfst du nie mehr in meiner Kiste schlafen, und ich erzähle dir auch nie mehr eine Gutenachtgeschichte!«

»War doch nur Spaß«, sagte Wolfi und kroch beleidigt unter die Bank.

Ella schaute auf das glitzernde Wasser. Nach einer Weile taten ihr die Augen weh. So viel Helligkeit war sie nicht gewohnt!

»Komm, Wolfi!«, sagte sie und stand von der Bank auf. »Ich glaube, es ist besser, wir gehen ein wenig in den Schatten.«

Wolfi erhob sich und trottete hinter Ella her.

Einige Spaziergänger warfen ihnen seltsame Blicke zu.

»Unverantwortlich, einen so großen Hund nicht an der Leine zu führen«, beschwerte sich ein älterer Herr.

»Mami«, sagte ein Junge zu seiner Mutter. »Der Hund da ist ein echter Wolf!«

»Ach, Unsinn!«, erwiderte die Mutter. »So ein kleines Mädchen wird doch keinen wilden Wolf spazieren führen!«

»Zu Hause habe ich ein Buch, da zeige ich dir, wie Wölfe aussehen«, sagte der Junge eigensinnig. »Es ist ein Wolf, wetten?«

Ella lächelte unsicher und legte ihre Hand auf Wolfis Nacken. Sie hatte weder Halsband noch Leine wie die anderen Leute, die mit ihren Hunden spazieren gingen. Sie musste sich unbedingt eine Hundeleine kaufen, wenn sie öfter tagsüber mit Wolfi unterwegs sein wollte. Ach, es gab so viele Dinge, die sie nicht wusste und die sie noch lernen musste! Es war nicht einfach, sich als Vampirmädchen unter Menschen zu bewegen …

Als ein weißer Pudel auf Wolfi zuschoss und es fast zu einer Beißerei kam, hatte Ella Tränen in den Augen.

»Wir gehen zu unseren Kisten zurück, auf der Stelle!«, befahl sie und stampfte mit den Füßen auf. »Hier ist es viel zu gefährlich.«

Sie rannte mit Wolfi zum Bahnhof und atmete erst auf, als sie wieder den Deckel über sich und Wolfi geschlossen hatte.

»Wir rühren uns nicht mehr von der Stelle, sondern warten, bis Konrad kommt«, bestimmte sie.

Wolfi war es recht. Er futterte noch ein bisschen Schnappi, dann legte er seinen Kopf in Ellas Schoß und schloss die Augen.

Ella selbst war viel zu aufgewühlt, um zu schlafen. Es war zwar toll, als Vampir am helllichten Tage durch die Gegend zu laufen, aber man musste auch höllisch aufpassen!

 

Stunde um Stunde verging. Im Schuppen war einiges los, es wurden andere Kisten und große Gepäckstücke abgeladen. Ella hörte, wie Leute herumliefen und Sachen verrückten. Auch ihre Kiste wurde ein paarmal ein Stück weggeschoben.

Endlich wurde es dunkel.

»Jetzt muss Konrad bald kommen«, flüsterte Ella Wolfi hoffnungsvoll ins Ohr.

»Hoffentlich hat er es nicht vergessen«, murmelte der kleine Werwolf.

Oje! Vergessen! Was für ein schrecklicher Gedanke! Ob sich Ella und Wolfi dann auf eigene Faust aufmachen mussten, um die Gruft der Familie Barthenfels zu finden? Ellas Herz klopfte laut. Nein, Konrad hatte ihre Ankunft bestimmt nicht verschwitzt! Er war doch ihr Freund! Und Freunde vergaß man nicht …

Plötzlich hörte Ella Stimmen.

»Hier müssen die Kisten irgendwo sein«, murmelte jemand. »Jedenfalls werden sie normalerweise immer hier abgestellt.«

»Hoffentlich hängt ein Zettel dran«, sagte eine andere Stimme. »Sonst nehmen wir vielleicht versehentlich eine Ladung Pflastersteine mit in die Gruft …«

Jetzt war Ella nicht mehr zu halten. Sie drückte den Deckel auf und sprang heraus. Wolfi folgte ihr.

Vor ihr im Schuppen standen Konrad und sein Bruder Viktor. Ella lief zu Konrad und fiel ihm in die Arme.

»Wie gut, dass du endlich da bist!«, rief sie. »Ich habe schon Angst gehabt, du hättest mich vergessen!«

»Ach was!« Konrad grinste. »Wie könnte ich dich vergessen! Seit Tagen habe ich die Stunden bis zu deiner Ankunft gezählt! Meine ganze Familie freut sich auf dich. Ich habe viel von dir erzählt!«

Er blickte ihr ins Gesicht und grinste noch mehr: »Ich glaube, du hast inzwischen auch ein paar Sommersprossen bekommen! Zwar längst nicht so viele wie ich, aber vier oder fünf kann ich schon entdecken.«

»Ich war vorhin mit Wolfi am See«, erzählte Ella. »Ihr habt es hier sehr schön! Aber dann kam leider ein Hund, und fast hätten er und Wolfi sich gebissen. Da bin ich ganz schnell wieder in meine Kiste zurückgekrochen, denn dort ist es wenigstens sicher.«

Konrad bückte sich, um den kleinen Werwolf zu streicheln.

Jetzt begrüßte Ella auch Viktor. Er gab ihr höflich die Hand und lächelte. Ella sah seine spitzen Eckzähne.

»Herzlich willkommen, Ella! Hoffentlich gefällt es dir bei uns.«

»Bestimmt«, meinte Ella und strahlte Viktor an.

»Meine kleine Schwester Roswitha wäre um ein Haar auch mitgekommen, um euch abzuholen«, erzählte Konrad. »Sie kann es gar nicht abwarten, Wolfi zu sehen. Sie ist nämlich noch nie einem echten Werwolf begegnet.«

»Aber dann konnte Mama Roswitha zum Glück überreden, in der Gruft zu bleiben«, sagte Viktor. »Sie soll ihr beim Suppekochen helfen. Es gibt für euch ein tolles Begrüßungsessen!«

»Fein!«, freute sich Ella. »Ich habe jetzt wirklich einen Riesenhunger.«

»Also nichts wie los«, sagte Konrad. »Auf zur Gruft!«

 

Konrad und Viktor stapelten die beiden Kisten übereinander und trugen sie aus dem Schuppen. Ella wunderte sich nicht darüber. Vampire waren normalerweise sehr stark, viel stärker als ein Mensch. Konrad und Viktor trugen die Kisten, ohne zu keuchen. Sie konnten sich dabei sogar noch mühelos unterhalten.

Ella und Wolfi liefen neben den beiden her. Ella hüpfte vor Freude. Sie konnte es gar nicht mehr abwarten, die Gruft zu sehen und Konrads Familie kennenzulernen. Sie durchquerten den Ort, ließen die Häuser hinter sich und nahmen einen Weg, der den Berg hinaufführte. Links und rechts davon waren Wiesen, es duftete betörend nach Blumen und Kräutern.

Wolfi lief durchs hohe Gras. Auch er wurde zunehmend aufgeregt.

»Es riecht nach Fuchs«, verkündete er. »Nein, nach einem Reh! Ein Hase ist hier durchgelaufen, ganz bestimmt …«

»Lauf nicht weg!«, mahnte Ella. »Nicht dass wir dich verlieren und dich suchen müssen.«

Der Weg wurde immer steiler und führte schließlich zwischen Felsen hindurch.

»Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte Konrad. »Bald haben wir es geschafft, Ella.«

An einer Verengung mussten die Vampire die Kisten absetzen und einzeln weitertransportieren.

Hinter einer Fichte befand sich eine Öffnung im Felsen.

»Wir sind da«, verkündete Konrad.

Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, tauchten lauter Gestalten auf, die die Ankömmlinge umringten.

»Herzlich willkommen, Ella und Wolfi!«, riefen die Vampire im Chor.