Viktor kam erst kurz vor Morgengrauen zurück. Unter dem Arm trug er einen Stapel Plakate. Er wirkte müde und erschöpft und hatte schlechte Laune.
»Ich hau mich jetzt gleich aufs Ohr«, verkündete er. »Lasst mich bloß in Ruhe!« Er drückte Konrad die Plakate in die Hand, kroch in seinen Sarg und knallte den Deckel zu.
Ella zuckte zusammen.
»Keine Sorge, das meint er nicht so«, sagte Konrad. »Wahrscheinlich war der Besuch bei Holger ziemlich anstrengend. Aber Hauptsache, wir haben die Plakate!«
Er rollte eines auseinander und nickte zufrieden. »Es ist gut geworden. Findest du nicht auch, Ella?«
»Ja, es ist toll«, sagte Ella begeistert. Der Text war in Rot geschrieben und sprang sofort ins Auge. »Wann willst du sie aufhängen?«
»Je früher, desto besser«, antwortete Konrad.
»Wollen wir jetzt gleich losziehen?«, schlug Ella vor.
»Bist du denn nicht müde?«, fragte Konrad verwundert.
»Nicht die Spur«, sagte Ella. »Also, von mir aus kann es sofort losgehen.«
»Aber die Sonne …« Konrad deutete nach draußen.
»Kann uns deine Oma nicht wieder etwas von der wunderbaren Sonnenmilch spendieren?« Ella zwinkerte Konrad zu. »Sie hat doch bestimmt noch welche da …«
»Hm, ich frag sie mal«, sagte Konrad und durchquerte die Gruft.
Oma Friedel war schon im Schlafgewand und wollte eben in ihren Sarg steigen. Konrad gab ihr die Zeichnung von Opa Rudi und zeigte ihr auch die Plakate. Oma Friedel war sehr zufrieden.
»Das habt ihr gut gemacht! Ach, was Menschen alles können! Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, mit ihnen befreundet zu sein.«
»Hast du eigentlich noch Sonnenmilch?«, fragte Konrad. »Ella und ich wollen nämlich losgehen, um die Plakate aufzuhängen.«
»Ja, natürlich habe ich noch Sonnenmilch«, antwortete Oma Friedel. Sie trat an eine große Eichentruhe und öffnete den Deckel. Die Truhe war voller Kartons, in denen die unterschiedlichsten Dosen und Fläschchen standen. Oma Friedel wühlte ein bisschen herum, dann hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie überreichte Konrad zwei Flaschen. »Hier, bitte schön – für dich und Ella.«
»Danke, Oma.« Konrad küsste seine Oma auf die Wange, dann ging er zu Ella zurück, die ihm gespannt entgegensah. Triumphierend schwenkte er die Flaschen.
»Hier, Ella, voller Erfolg!«
Ella freute sich. »Prima.« Dann wurde sie ernst. »Oje, aber das dauert bestimmt lange, wenn wir beide erst noch ein Bad nehmen müssen.« Die Sonnenmilch sollte ins Badewasser geschüttet werden, dann war man eine Woche lang vor dem Sonnenlicht geschützt.
»Wenn wir zusammen baden, geht es schneller«, schlug Konrad vor.
Ella wurde dunkelrot im Gesicht. »Auf gar keinen Fall! Das kommt nicht in Frage!«
»Hm«, machte Konrad und schaute verlegen zu Boden.
»Wirkt die Sonnenmilch auch, wenn man sie einfach auf die Haut schmiert wie Creme?«, erkundigte sich Ella.
»Keine Ahnung.« Konrad hob die Schultern.
»Ich frag Oma Friedel.« Ella wartete nicht auf Konrads Antwort, sondern lief gleich los. Oma Friedels Sarg war bereits zugeklappt, aber Ella hörte, wie sie drinnen rumorte.
»Oma Friedel?« Sie klopfte zaghaft auf den Sargdeckel. »Ich bin’s, Ella. Ich habe da noch eine Frage …«
»Ja, du kannst den Deckel aufmachen, mein Kind«, kam Oma Friedels Stimme aus dem Sarg.
Ella stemmte mühsam den schweren Sargdeckel hoch. Oma Friedel lag auf violetten Kissen. Sie hatte Konrads Zeichnung an der Seitenwand des Sargs befestigt und schaute sie liebevoll an.
»Muss man unbedingt in Sonnenmilch baden, damit sie wirkt?«, fragte Ella. »Reicht eincremen nicht auch?«
»Wenn du dich sorgfältig einreibst, genügt es«, sagte Oma Friedel. »Baden ist natürlich angenehmer. Du entspannst dich dabei, und die Wirkstoffe dringen tiefer in deine Haut. Wenn du dich nur einreibst, hält die Wirkung keine Woche an. Du musst es spätestens nach drei Tagen wiederholen.«
»Danke.« Ella klappte den Sargdeckel vorsichtig wieder zu. Dann setzte sie sich auf den Sarg und fing an, sich sorgfältig mit der Sonnenmilch einzucremen. Wie gut das roch! Nach würzigen Kräutern … Ella atmete tief den Geruch ein und musste prompt niesen. Wolfi, der sich in einer Ecke zusammengerollt und geschlummert hatte, wachte auf, trabte zu Ella und legte ihr den zotteligen Kopf in den Schoß.
»Alles in Ordnung mit dir, Ella?«
»O ja, Wolfi!« Ella schob etwas ungeduldig den Kopf weg. »Ich will mich bloß eincremen. Jetzt stör mich nicht dabei!«
Wolfi hockte sich auf seine Hinterpfoten und sah Ella zu. Wenig später kam auch Roswitha angeschlichen, setzte sich neben Wolfi und legte den Arm um den kleinen Werwolf.
»Was machst du da, Ella?«
Ella erklärte es ihr.
»Ich will auch dabei sein, wenn ihr die Plakate aufhängt«, sagte Roswitha sofort und streckte die Hand nach der Sonnenmilch aus.
»Aber du brauchst deinen Schlaf«, sagte Ella. »Du warst doch die ganze Nacht wach, und sicher bist du todmüde.«
»Ich bin überhaupt nicht müde«, widersprach Roswitha. »Außerdem kann ich sowieso nicht gut schlafen, solange Opa Rudi weg ist. Er fehlt mir so sehr!« Sie verzog das Gesicht und fing an zu heulen. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Wolfi jaulte leise und schmiegte sich an das kleine Mädchen.
»Na gut, dann kommst du eben mit.« Ella seufzte. »Hoffentlich hat Konrad nichts dagegen.« Sie gab die Flasche Sonnenmilch an Roswitha weiter. »Du musst dich aber wirklich gut damit eincremen und darfst nichts vergessen. Sonst verbrennt dich die Sonne! Du weißt doch, wie gefährlich das Sonnenlicht für uns Vampire ist.«
»Klar weiß ich das«, sagte Roswitha und schraubte den Deckel von der Flasche. »Hm, riecht lecker …«
»Das Zeug ist zum Einreiben, nicht zum Schlecken«, sagte Konrad, der hinzugekommen war. Er hob warnend den Zeigefinger.
»Weiß ich doch.« Roswitha grinste und fing an, sich die Sonnenmilch ins Gesicht zu schmieren. »Oh, ich bin so aufgeregt. Ich war noch nie tagsüber unterwegs. Wie ist das? Wird man da nicht ganz verrückt im Kopf, wenn man die vielen Farben sieht?« Sie zappelte hin und her.
»Du wirst es bald erfahren«, sagte Konrad. »Aber wir nehmen dich nur mit, wenn du dich wirklich gründlich mit der Sonnenmilch eingerieben hast. Nicht dass dir noch etwas passiert …« Er lächelte. »Ich würde meine nervige kleine Schwester nämlich schon vermissen …«
Eine halbe Stunde später waren die drei kleinen Vampire fertig und bereit zum Aufbruch, während der Rest der Familie Barthenfels inzwischen in den Särgen verschwunden war. Konrad stopfte die Plakate in einen Rucksack. Dann zogen die drei los, begleitet von Wolfi, der natürlich auch mitkommen wollte.
Im Wald hing noch die kühle Morgenluft, während sich die ersten Sonnenstrahlen durch die Zweige stahlen. Roswitha streckte begeistert die Hände aus und ließ das Licht auf ihrer Haut tanzen. Ella fand es wunderbar, wie die Vögel zwitscherten. Der Gesang kam von allen Seiten und begleitete sie den Berg hinunter.
Über dem See schwebte Nebel, so dass man nicht bis zum anderen Ufer schauen konnte. Ein paar Leute, die ihre Hunde spazieren führten, waren unterwegs, aber sonst war es noch recht still in dem kleinen Ort.
»Also – wo fangen wir an?«, fragte Konrad.
Ella deutete auf einen dicken Baum. »Da könnten wir das erste Plakat aufhängen!«
Konrad hatte zum Glück auch an Reißnägel gedacht. Ella hielt das Plakat an den Stamm, und Roswitha durfte die Reißnägel hineindrücken.
Dann trat Ella einen Schritt zurück und nickte zufrieden. »Sieht gut aus, finde ich.«
»Hoffentlich liest Opa Rudi das Plakat auch.« Konrad seufzte.
Insgesamt hängten sie sieben Plakate in dem kleinen Ort auf. Als sie damit fertig waren, waren die Straßen schon viel belebter. Die Leute fuhren mit ihren Autos zur Arbeit, und die Kinder waren unterwegs zur Schule.
Konrad schlug vor, die Plakate auch in den umliegenden Orten aufzuhängen. Sie warteten an der Bushaltestelle. Ella war genauso aufgeregt wie Roswitha, sie war nämlich auch noch nie mit dem Bus gefahren. Doch Konrad wusste, wie es ging. Er löste die Fahrkarten beim Busfahrer, dann setzten sie sich auf ihre Plätze. Wolfi war ganz brav, damit die anderen Fahrgäste ihn für einen Hund hielten.
Ella schaute während der Fahrt zum Fenster hinaus, doch dann wurde ihr ein bisschen schlecht, und sie machte lieber die Augen zu. Konrad hielt tröstend ihre Hand.
»Es dauert nicht lange! Bald sind wir im nächsten Ort, dann können wir aussteigen. Ich sehe schon die Haltestelle.«
Ella war froh, als sie mit wackeligen Knien den Bus verlassen konnte. Roswitha dagegen hatte die Busfahrt gar nichts ausgemacht, sie hüpfte wie ein Gummiball auf dem Gehsteig hin und her.
»Das war toll, toll, toll! Machen wir das noch mal, Konrad?«
»Später«, sagte Konrad. »Zuerst müssen wir die Plakate aufhängen.«
Sie pinnten die Plakate wieder an Bäume und sogar an eine hölzerne Scheunenwand. Als Konrad gerade den letzten Reißnagel festdrückte, kam ein alter Mann vorbei und blieb stehen.
»Hier dürfen keine Plakate aufgehängt werden!«, sagte er streng. »Wenn das jeder machen würde!«
»Aber es geht um meinen Opa«, sagte Konrad. »Der ist nämlich verschwunden …«
»Das interessiert mich nicht«, sagte der Mann. »Wenn du nicht sofort das Plakat abnimmst, rufe ich die Polizei, und du bekommst richtigen Ärger!«
Konrad murrte leise vor sich hin, während er das Plakat wieder entfernte. Der Mann wartete, bis Konrad es in seinen Rucksack gesteckt hatte, dann nickte er und ging endlich weiter.
»Doofer Kerl«, beschwerte sich Ella. »Das Plakat hätte wunderbar an die Wand gepasst. Man hätte es schon von weitem sehen können.«
»Ja, schade!«, sagte Konrad. »Aber ich traue dem Typen zu, dass er wirklich die Polizei geholt hätte.«
Roswitha war inzwischen ein Stück weitergelaufen und warf für Wolfi einen Stock, den der Werwolf wie ein gut erzogener Hund immer wieder zurückbrachte. In der Nähe war ein kleiner Kiosk. An den Seiten waren verschiedene Zeitungen und Zeitschriften ausgestellt. Roswitha betrachtete neugierig die bunten Bilder. Plötzlich wurde sie ganz aufgeregt. Sie vergaß Wolfi und den Stock und hatte nur noch Augen für eine Zeitung.
»Das ist mein Opa! Da! Da!«
Sie lief zum Kiosk und deutete auf ein Schwarzweißfoto, das das Gesicht eines alten Mannes zeigte. Die Schlagzeile darüber lautete:
WER KENNT DIESEN MANN?
Aber für Roswitha, die noch nicht lesen konnte, waren das nur schwarze Buchstaben.
Der Inhaber des Kiosks wurde schließlich auf das Mädchen aufmerksam.
»Was ist denn los, Kleine?«
»Mein Opa ist in der Zeitung«, rief Roswitha. »Das ist Opa Rudi.«
Sie deutete auf das Bild und wollte die Zeitung aus der Halterung nehmen.
»So geht das aber nicht«, sagte der Besitzer. »Du musst die Zeitung schon kaufen.«
»Aber ich habe kein Geld«, sagte Roswitha. Sie wandte sich zur Seite und brüllte: »Konrad!«
Konrad kam mit Ella und bezahlte die Zeitung. Dann setzten sich die drei Vampire auf eine Bank, und Konrad las vor, was unter Opa Rudis Foto stand.
»Wer kennt diesen Mann? – Gestern wurde von einem Spaziergänger ein Mann im Wald gefunden. Er irrte umher und konnte sich an nichts erinnern, auch nicht an seinen Namen. Der Mann hatte keine Ausweis-Papiere bei sich. Der Spaziergänger verständigte die Polizei, die den Unbekannten in das Seniorenheim ›Sonnenschein‹ brachte. Dort wird er in den nächsten Tagen versorgt. Der Mann ist zwischen siebzig und achtzig Jahre alt, eins einundachtzig groß, hat weiße Haare und einen auffallenden weißen Schnurrbart. Wer kennt diesen Mann oder kann Hinweise auf seine Herkunft geben? Bitte setzen Sie sich mit der Polizei in Verbindung …«
»Jetzt wissen wir, wo Opa Rudi ist!«, jubelte Roswitha. »Wir brauchen ihn nur zu holen.« Sie sprang auf und zog Konrad an den Händen. »Los, komm, Konrad!«
»Langsam!«, sagte ihr Bruder. »Das gefällt mir gar nicht.« Er blickte zu Ella. »Warum kann sich Opa Rudi an nichts erinnern? Und wie ist es möglich, dass ein Foto von ihm in der Zeitung erscheint? Vampire lassen sich doch nicht fotografieren!«
Ella starrte auf das Bild. Kein Zweifel, es war ein echtes Foto, keine Zeichnung.
»Vielleicht liegt es an der Sonnenmilch …«
»Hm«, machte Konrad. »Das könnte sein. Wer weiß, was Oma Friedel da alles reingemischt hat.« Er faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in seinen Rucksack.
»Wir müssen herausfinden, wo dieses Seniorenheim ist«, sagte Ella. »Und dann nehmen wir Opa Rudi einfach wieder mit nach Hause.«
Sie standen von der Bank auf.
»Es macht mir Sorgen, dass er sich nicht erinnern kann«, meinte Konrad. »Ob das stimmt? Vielleicht ist es auch nur eine Ausrede. Er kann ja schlecht sagen, dass er ein Vampir ist.«
Konrad erkundigte sich am Kiosk, wo das Seniorenheim war. Der Besitzer wusste Bescheid und erklärte Konrad den Weg.
»Es fährt auch ein Bus zum ›Haus Sonnenschein‹, aber der nächste geht erst in zwei Stunden.«
»Vielen Dank!«, sagte Konrad höflich. »Sie haben uns sehr weitergeholfen.«
An der Bushaltestelle studierte er noch einmal den Fahrplan. Der Kiosk-Besitzer hatte recht. Der nächste Bus fuhr tatsächlich erst in knapp zwei Stunden.
»So lange warten mag ich nicht«, maulte Roswitha. »Da können wir auch laufen.«
»Oder fliegen«, sagte Konrad und blinzelte Ella zu.
»Am helllichten Tag?«, meinte Ella. »Ist das nicht zu auffällig?«
»Nicht, wenn wir durch den Wald fliegen«, erwiderte Konrad.